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Von Ziegen und Zufriedenheit

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Die Frage, wie man auf dieser Welt wenigstens einen Zipfel von Zufriedenheit erwischen kann, betrifft wohl alle Erdenbürger.

In der russischen Kleinstadt von Witebsk hat man die Lösung gefunden. So behauptet zumindest eine alte Geschichte, die längst in den Legendenschatz der Juden aufgenommen wurde.

Itzig, der Schneider, war stadtbekannt, weniger wegen der Hosen, die er meisterhaft zu flicken wußte, als wegen seiner lautstarken, frechen Kinderschar — elf an der Zahl, die die ganze Umgebung verunsicherten. Nur ein zwölftes fehlte noch, so sagten die Leute, und die Stämme Israels wären komplett.

Wie er mit all den Kindern samt Frau, Schwiegermutter und einer alten Tante in einer baufälligen Hütte mit zwei Zimmern friedlich

leben konnte, war ein Geheimnis, das niemand zu lüften wußte. Niemand — außer dem Rabbi, der ihm dazu verholfen hatte, doch der war in privaten Angelegenheiten, wie immer, verschwiegen wie das Grab.

Und wenn jemand ihn fragte: „Itzig, sag' einmal, warum bist du so quietschvergnügt?", so lächelte der Schneider verschmitzt, schaute zum Himmel hinauf, als wollte er andeuten, daß alles Glück von oben käme — und nähte ungestört weiter.

Doch das war nicht immer so.

Als Jakob, sein zehntes Kind, zur Welt kam, drohte das Eheglück zu platzen. Frühmorgens schon begann das Gezanke, das Heulen der Kinder, das Gezeter der drei Frauen und das Meckern der Ziege, die im Ga'rten vor dem Hause angebunden war. Es war genug, um aus der Haut zu fahren, wie die Nachbarn einstimmig bezeugten.

Als dann eines Tages Miriam sich als elfte zum Kindersegen da-zugesellte, war der Höhepunkt erreicht. Und so ging Itzig der Schneider zum Rabbi um Rat:

„Wir haben zwei Zimmer, Rabbi, und wir sind vierzehn Seelen insgesamt. Was soll ich da tun?" fragte er.

„Seid ihr alle gesund?" wollte der Rabbi wissen.

„Ja, Gott sei Dank", erwiderte Itzig.

„Habt ihr euer Auskommen?"

„Zum Brot und zur Suppe reicht es", gab der Schneider zu.

„Was fehlt dir dann noch?" fragte der Rabbi erstaunt.

„Eng ist es uns geworden", seufzte Itzig, „so eng, daß ich unsere Ziege fast beneide, die allein den ganzen Garten hat."

„So", sagte der Rabbi nachdenklich: „Eine Ziege hast du auch." „Sonst hätten wir doch keine Milch für die Kleinen", entschuldigte sich der Schneider,

„aber vor lauter Platzmangel reibt man sich aneinander, und da kommt's zum Streit, so daß ich mit der Arbeit nicht mehr fertig werde. Was soll ich da tun?"

Eine Zeitlang kräuselte sich der Rabbi seinen langen grauen Bart, ehe er antwortete: „Hol* die Ziege ins Haus hinein!"

Der Schneider war sicher, er habe nicht richtig gehört: „Was soll ich mit der Ziege im Haus tun?" fragte er verdutzt.

„Bring sie zu dir!"

„Aber das geht doch nicht! Zu vierzehnt sind wir und können kaum noch atmen — und da soll die Zi-Ziege..." er stotterte vor Aufregung, aber der Rabbi blieb unbeirrbar bei seinem Entschluß:

„Bring* die Ziege ins Haus hinein!"

Itzig war ein frommer Mann, der all seinen religiösen Pflichten willig nachkam, aber diesmal hatte er Zweifel, ob der Rabbi bei rechten Sinnen war. Nach der dritten Wiederholung blieb ihm aber kein Ausweg — und so geschah das Undenkbare: In der Ek-ke, neben der Nähmaschine, unter dem Fenster, wurde eine Nische abgezäunt, eine Kette in der Wand befestigt — und die Ziege

kam als Untermieterin in das Schneiderhaus.

Eine Woche lang hielt Itzig die Hölle auf Erden aus. Eine Woche lang erduldete er das Geschrei, Geheule, Gezeter und Gejohle seiner Großfamilie, das nun durch das Gemecker der Ziege gekrönt wurde. Dann platzte ihm endlich die Geduld. Gleich nach dem Morgengebet lief er zum Rabbi und schüttete sein Herz aus: „So kann es nicht mehr weitergehen!" röchelte er aus heiserer Kehle: „Ich kann nicht mehr schlafen; die Arbeit stockt, und wir werden alle verrückt."

„Gut," sagte der Rabbi, .jetzt nimm die Ziege heraus!" — „Wohin? In den Garten?"

„Dorthin, wo sie früher war", bestätigte der Rabbi.

Mit frohen Schritten eilte der Schneider nach Hause. Zu Mittag war die Ziege an ihrem altgewohnten Platz, und alles schien zum ursprünglichen Zustand zurückzukehren. Doch nein! Ganz unerwartet war es jetzt viel ruhiger; der Lärm nahm ab; auf einmal schien die Hütte doppelt so groß geworden zu sein; man nahm Rücksicht aufeinander, und hie , und da war es sogar ganz mäuschenstille.

Am Sabbath nach dem Gottesdienst kam der Rabbi auf den Schneider zu: „Na, wie geht's bei euch?" fragte er mit heiterer Miene. „Ausgezeichnet!" — „Und der Ziege?" - „Der auch!"

So wurde die alte Ziege zum Friedensstifter. Mehr noch: zum Zu-frieden-macher, wovon sich die Kunde wie ein Lauffeuer über das ganze Land verbreitete. Und mit ihr kam auch die Einsicht, daß wir alle wohl hie und da eine Ziege ertragen müssen, um uns der Fülle bewußt zu werden, die uns Gott beschert hat.

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