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Wenn nicht noch höher

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Laßt uns den Tag mit einer Geschichte beginnen, die ich von meinem Großvater gehört habe.

Für die jüdische Gemeinde in der russischen Kleinstadt Nemi-rov war es eine ausgemachte Sache, daß ihr Rabbi jeden Sabbath morgen in den Himmel fuhr. Der Beweis lag ja auf der Hand: Er war nirgendwo zu finden, weder in der Synagoge, noch im Lehrhaus und bei sich zu Hause ganz gewiß nicht. Also war der Rabbi in den Himmel gestiegen, um als Fürsprech seiner Gemeinde im Obersten Gerichtshof aufzutreten.

So dachten alle frommen Juden in Nemirov — bis eines Tages ein Zweifler aus Moskau in die Stadt kam, sich niederließ und auf die Geschichte von der Himmelreise mit schallendem Gelächter reagierte:

„Nicht einmal Moses ist zu Lebzeiten in den Himmel gekommen!” spottete er, „und da soll ausgerechnet euer Rabbi ins Reich der Engel hinaufsteigen?!”

Die Juden von Nemirov aber ließen nicht locker: „So geh und such ihn doch!” erwiderten sie. „Schau, ob du ihn am Sabbath finden kannst!”

Gesagt, getan. Als er vier Sab-bathe hintereinander keine Spur vom Rabbi zu entdecken vermochte, brachte er es fertig, sich am Freitag abend in sein Haus einzuschleichen. Er verkroch sich dort, fest entschlossen, die ganze Nacht durchzuwachen, bis er das Geheimnis lüften würde.

Kurz vor Morgengrauen stand der Rabbi auf, verrichtete sein Morgengebet, holte aus dem Schrank ein Bündel hervor, aus dem er ein paar Leinenhosen, Schaftstiefel, einen Bauernrock und eine große Pelzmütze herausnahm, und zog die Kleider an. Hierauf holte er hinter dem Ofen eine Axt hervor, steckte sie sich in den Gurt — und verließ das Haus. Der Zweifler zitterte zwar in der eiskalten Morgenluft, aber blieb nicht zurück.

Vbr der Stadt, am Waldrand, bleibt der Rabbi stehen, sucht sich einen Baum aus, den er fällt, in Klötze spaltet und dann in kleinere Scheite hackt, die er mit einem Strick zusammenbindet, sich auf den Rücken lädt und, munter pfeifend, zurück zur Stadt trägt.

Der Zweifler, verdutzt und immer neugieriger, schleicht ihm nach.

In der letzten Gasse beim Stadttor hält der Rabbi vor einer halbeingefallenen Hütte und klopft ans Fenster.

„Bist du das, Iwan?” fragt eine schwache Stimme.

„Ja”, antwortet der Rabbi, „ich habe wieder Holz zu verkaufen. Sehr billig, so gut wie umsonst.” Und ohne eine Antwort abzuwarten, tritt der Rabbi ins Haus. Im Bett liegt eine alte Frau:

„Kaufen? Womit soll ich's denn bezahlen?” fragt sie mit einem traurigen Lächeln, „ich bin dir ja schon vier Trachten Heizholz schuldig.”

„Ich will es dir borgen”, antwortet der falsche Iwan, „du bist arm und krank und ich gebe dir das bißchen Holz auf Kredit. Und du hast einen so großen und barmherzigen Gott, daß es eine Schande wäre, Ihm nicht die lächerlichen zwei Rubel für Holz auf Kredit zu geben.”

„Und wer wird einheizen?” stöhnte die Witwe, „ich habe doch nicht die Kraft, in der Kälte aufzustehen!”

Aber der Rabbi war schon dabei, das Holz in den Ofen zu legen, und im Nu brannte ein lustiges Feuer, auf dem er eine Suppe zu kochen begann. Als die beiden sich zu Tisch setzten, schlich sich der Zweifler nachdenklich davon.

Und so oft später jemand erzählte, der Rabbi verlasse am Sabbath allwöchentlich die Erde, um in den Himmel zu steigen, lachte der Zweifler nicht mehr, sondern fügte hinzu, was inzwischen ein geflügeltes Wort geworden ist:

„Wenn nicht noch höher!”

Denn alle, die die Nächstenliebe üben, kommen in den ersten Himmel; die es aber im Verborgenen tun, so daß es nur die Engel sehen, die gelangen bis in den siebenten Himmel hinauf — vor Gottes Thron.

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