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Barabbas

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Und in der Abenddämmerung, am dritten Tag, schritt er durch das schmale Tor hinaus und begab sich still auf den Weg. Die Ruinen, an beiden Seiten, rauchten schwarz. Unten, in der Tiefe des ausgetrockneten Grabens fand er den ersten von jenen, die vor Pilatus' Haus den Namen Barabbas gerufen hatten. Der, in der Tiefe, heulte mit schwarzer Zunge zu den roten Wolken.

Er blieb stehen vor ihm und sagte leise:

„Ich bin da.“

Und der in dem Graben blickte zu ihm hinauf und fing an zu schluchzen.

„Rabbi! Rabbi!“ schluchzte er.

Und der Meister fuhr sanft fort.

„Weine nicht. Stehe auf und komm mit mir. Denn ich gehe nach Jerusalem zurück, ich gehe vor das Haus des Pilatus und bitte um ein neues Gesetz: Uber mich und über euch, die ihr Barabbas gewählt habt und mit denen Barabbas dieses Übel vollbrachte.“

Da stand der Armselige auf und griff nach dem Saum seines Gewandes.

„Meister!“ schrie er atemlos und voller Tränen, „Oh, Meister, ich komm mit! Sag mir, wie könnte ich mich retten! Sag mir, was kann ich tun! Sag mir, was soll ich sagen!“

„Nichts“, erwiderte er sanft. „Nur das, was du vor drei Tagen zu sagen hattest, als Pilatus auf der Terrasse stand und euch fragte: ,Wen soll ich also von den beiden laufen lassen, Barabbas, den Mörder oder den Mann aus Nazareth?'“

„Oh, ich Wahnsinniger!“ schrie der Armselige und schlug mit den Fäusten gegen seinen Kopf. „Oh, ich Wahnsinniger, der Barabbas gerufen hat!

Barabbas, der mich in diese Tiefe herabstieß.“

„Es ist gut so“, fuhr sanft der Meister fort. „Jetzt also komm mit mir zum Hause des Pilatus, kümmere dich mit nichts, achte auf nichts, nur auf mich, und wenn ich dir zuwinke, schrei aus deinen ganzem Herz, mit deiner ganzen Lunge: ,Den Mann aus Nazareth', als würdest du schreien: .Mein Leben!'“

Und er folgte ihm.

Und sie fanden am Wege einen anderen Menschen, der schrecklich zugerichtet war, denn Barabbas hatte ihm Haus und Weib und Kind weggenommen und seine Augen ausstechen lassen.

Und er berührte mit seiner Hand sanft die Stirn des Mannes und sagte:

„Ich bin es. Komm mit mir nach Jerusalem und wenn ich dich mit meiner Hand berühre, schrei: ,Den Mann aus Nazareth!', als würdest du schreien: .Mein Haus! Mein Kind! Das Licht meiner Augen!'“

Und der Mann weinte und folgte ihm.

Und sie fanden auch einen Anderen, dessen Hände und Füße mit einem Strick zusammengebunden und an seinem Hals gefesselt waren, und dieser Mensch lag mit dem Gesicht im stinkenden Sumpf, zwischen Wanzen und Kriechtieren, und das alles hätte ihm Barabbas angetan.

Und er ging hin zu ihm und löste seine Stricke und sagte: „Ich kenne dich. Du warst Dichter, du hast den freien Flug der Seele verkündet. Komm mit mir und wenn ich winke, schreie: ,Den Mann aus Nazareth!' als würdest du schreien: ,Die Freiheit! Die Freiheit der Seele und des Gedankens!' “

Und der küßte seine Sandalen und flehte nur mit seinen Augen zu ihm, denn sein Mund war noch voll mit Kot.

Und so gingen sie weiter und immer mehr Gelähmte und Hinkende und elende Aussätzige schlössen sich ihnen an, und alle waren sie von Barabbas zugrunde gerichtet worden. Und jeder, für sich, schlug auf seine Brust und flehte zu ihm, daß er nur winken solle, wenn der Augenblick gekommen sei und jeder würde dann rufen: ,Den Mann aus Nazareth!' als würde er schreien: .Frieden! Frieden! Frieden auf der Erde!' “

Und abends kamen sie in Jerusalem an, vor dem Haus des Pilatus. Pilatus saß auf der Terrasse und nahm sein Abendmahl ein, zu zweit mit Barabbas, dem Mörder.

Dick und mit glänzenden Gesichtern saßen sie dort, sie tranken schwere Weine und aßen teure Speisen aus goldenen Gefäßen. Ihre scharlachroten Gewänder leuchteten.

Und der Mann aus Nazareth an der Spitze der Menge, die ihm gefolgt war, trat vor die Terrasse hin, hob seine mit Nägel durchschlagene Hände und begann sanft zu reden:

„Das Fest ist noch nicht zu Ende, Pilatus. Es ist Gesetz und Sitte, einen von den Verurteilten zu Ostern frei zu lassen, so, wie es das Volk wünscht. Das Volk hatte gefordert, daß du Barabbas freilassen solltest und ich bin gekreuzigt worden - aber ich hatte aus meinem Sterben zurückkehren müssen, weil ich gesehen hatte, daß das Volk nicht gewußt hatte, was es tat. Diese Menge hier, hinter mir, hat Barabbas erkannt und will jetzt neues Recht - frage sie nun nochmals, wie es in unseren Gesetzen geschrieben steht.“

Und Pilatus dachte nach, dann zuckte er mit den Achseln, trat an den Rand der Terrasse, blickte verwundert über die Menge hinweg und fragte:

„Wen also soll ich freilassen, den Barabbas oder den Mann aus Nazareth?“

Und da winkte er ihnen.

Und da erhob sich ein Sausen, und aus der Menge dröhnte es wie ein Donner.

Und die Menge schrie:

„Barabbas!“

Und entsetzt blickten sie einander an, weil jeder, für sich gerufen hatte: ,Den Mann aus Nazareth!' “

Und der Meister wurde blaß, wandte sich um und ließ seinen Blick über ihre Köpfe streifen.

Und er erkannte jedes einzelne Gesicht, aber von den vielen Gesichtern war in der Abenddämmerung ein einziges Gesicht geworden, ein riesiger Kopf, der albern und böswillig und unverschämt in sein Antlitz grinste; ein Kopf, dessen blutunterlaufene Augen blinzelten, aus dessen

Mund stinkende Feuchtigkeit rieselte, und aus dessen Rachen es heiser hinaus brüllte:

„Barabbas!“, als brüllte es „Tod! Tod! Tod!“

Und Pilatus schlug verstört seine Augen nieder und sagte zu ihm:

„Du siehst es!“

Und er nickte mit seinem Kopf, stieg leise die Treppen empor und streckte seine Hände dem Henker entgegen, damit dieser ihn fesseln möge.

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