Gäbe es keine Synagogen, Kirchen, Moscheen, gäbe es keine Tempel, Schreine, Kraftorte, heilige Haine , wir müssten sie erfinden. Was müssten wir erfinden? - Orte und Zeiten müssten wir erfinden, an und zu denen Menschen gemeinsam über dem Wissen ausruhen, dass sie sich nicht selbst hergestellt haben. Dass es Vorfahren, Mütter und Väter, Onkel und Tanten, sorgende Gemeinwesen, dass es Traditionen und Moralen waren, die ihnen den Weg ins Erwachsensein geebnet haben. Dass all dies eingebettet ist in ein großes Ganzes, das man "Natur", Kosmos","Schöpfung" oder sonstwie nennen kann: etwas Unverfügbares, Nährendes um uns alle herum, ohne das niemand von uns da wäre. Und dass, wenn niemand da wäre, auch niemand Krieg führen könnte. Und dass es deshalb nichts als logisch ist, zu nähren, was uns nährt, und friedlich weiterzugeben, was wir bekommen haben.
Heute dienen die traditionellen religiösen Orte, Bauwerke und Zeiten oft noch der Identitätssicherung, manchmal der Abgrenzung gegen ein feindliches Außen. Das ist vielleicht normal, denn Menschen brauchen wohl auch das Gefühl, exklusiv zu einer Gruppe zu gehören, die nicht jedermann offensteht, weshalb das Projekt der europäischen Aufklärung, eine abstrakte Menschheitsreligion zu schaffen, gescheitert ist.
Aber wenn ich es richtig sehe, dann gibt es in allen Religionen auch den anderen, den inklusiven Impuls: die Offenheit für das Nichtverstehbare, das dennoch nährt und trägt, nicht nur mich, nicht nur uns hier drin, sondern alle. Für meine protestantische Tradition hat es Martin Luther schön auf den Begriff gebracht: "Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen." Da steht die Kirchentür weit offen und alle gehören dazu.
Die Autorin ist Schriftstellerin und evangelische Theologin in der Schweiz
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