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Mit „vorbedachter Eskalation“

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Das „Weißbuch 1970 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr“ ist in diesen Tagen den Abgeordneten des Bundestages zugeleitet worden. Das Parlament wird noch vor der Sommerpause in einer Wehrdebatte das Weißbuch diskutieren, das in die beiden Hauptteile „Sicherheitspolitik“ und „Die Lage der Bundeswehr“ gegliedert ist. Beide Themen werden in acht Kapiteln auf insgesamt vierhundert Seiten abgehandelt. Das Weißbuch läßt kaum ein Gebiet der Verteidigung unberührt und behandelt daher die schwierigen Probleme der Sicherheitspolitik ebenso, wie die Fürsorge für den einzelnen Wehrpflichtigen. Es behandelt ebenso Sofortmaßnahmen wie Aspekte, die sich erst nach Jahren auswirken. Das Weißbuch macht deutlich, daß viele dieser Punkte eng miteinander verzahnt sind. Eine große Zahl der im Weißbuch behandelten Themen ist sicherlich der

Niederschlag aus den Besuchen, die der Bundesverteidigungsminister Schmidt seit seiner Amtsübernahme in vielen großen und kleinen Standorten der Bundeswehr zum Zwecke einer „kritischen Bestandsaufnahme“ gemacht hat Zudem erscheinen im Weißbuch auch mehr als 2700 Berichte, die dem Planungsreferat im Bundesverteidigungsministerium zugeleitet und von zwöli Arbeitsgruppen ausgewertet worden sind. Das Weißbuch weist in einer politischen Lagebeurteilung darauf hin: „Eine großangelegte Aggression gegen Westeuropa, die auf Vernichtung oder Annexion der Bundesrepublik und ihrer Nachbarländer abzielt, liegt zwar nicht außerhalb der militärischen Möglichkeiten des Warschauer Paktes. Sie würde jedoch die vorbedachte Eskalation der NATO auslösen, und wenn der Gegner sein Vorhaben fortsetzte, leicht in einen nuklearen Weltkrieg führen, den auch ein Angreifer nicht ohne nennenswerte Schädigung seiner nationalen Substanz zu überleben vermöchte. Eine großangelegte Aggression gegen Westeuropa ist daher zur Zeit wenig wahrscheinlich.“ In einer Fußnote erklärt das Weißbuch den Begriff der „Vorbedachten Eskalation“ (deliberate escalation) so: „Kontrolliertes Steigern der Intensität des Kampfes, räumliche Ausweitung des Konflikts oder kontrollierte selektive Einsätze von Nuklearwaffen sollen einem Angreifer vor Augen führen, daß die Risken, die er eingeht, in keinem angemessenen Verhältnis zu den Zielen stehen, die er mit seinem Angriff verfolgt. Der Angreifer soll die Aussichtslosigkeit seiner Aggression erkennen, den Angriff einstellen und sich vom NATO-Territorium zurückziehen.“ Derzeit stehen auf deutschem Boden etwa 360.000 Soldaten der verbündeten Nationen neben den 460.000 Soldaten der Bundeswehr.

Das Weißbuch untersucht auch die Präsenz der Verbündeten: „Bei der Verteidigung Europas kommt den US-Verbänden — rund 200.000 Soldaten in der Bundesrepublik und weiteren 100.000 Soldaten in anderen europäischen Staaten sowie im Mittelmeer — eine unverzichtbare Rolle zu, zugleich sind sie das Bindeglied zwischen Europa und dem nuklearen Abschreckungspotential der Vereinigten Staaten ... Ihre Zahl in Deutschland ist im Laufe der letzten 20 Jahre der jeweiligen politischen Situation entsprechend mehrfach verändert worden ... Die Umstände werden im Laufe des Jahrzehnts hoffentlich eine erneute Verminderung erlauben. Die Pläne für einen beiderseitigen ausgewogenen Truppenabzug erhalten in diesem Licht ihre besondere Bedeutung ... Es leuchtet ein, daß die Unterhaltung ihrer europäischen Garnisonen den Vereinigten Staaten beträchtliche finanzielle Lasten aufbürdet. Die Bundesrepublik hat die amerikanischen Devisenausgaben — zum großen Teil — zuletzt bis zu 80 Prozent — ausgeglichen ... Für die Zukunft werden neue Wege gesucht werden müssen, um eine angemessene Verteilung der Belastungen im Bündnis zu erleichtern. Die Bundesregierung ist in dieser Frage weiterhin zu wirtschaftlich vernünftigen und vertretbaren Leistungen bereit“

Das Weißbuch nennt den „französischen Bundesgenossen aus politischen und geographischen Gründen einen unverzichtbaren Partner“. Frankreich verfolge seit mehreren Jahren zwar eine eigenständige Militärstrategie, habe jedoch die Mitwirkung französischer Truppen an der gemeinsamen Verteidigung keineswegs ausgeschlossen. Frankreich arbeite im Rahmen der politischen Gegebenheiten bei militärischen Planungen und Übungen der NATO mit. „Auf deutschem Boden stehen die 1. und 3. Division des II. Korps mit rund 60.000 Mann.“ Die enge bilaterale deutsch-französische Zusammenarbeit „drückt sich aus in jährlichen bilateralen Übungen, ständigem Personalaustausch und auch in 68 Patenschaften zwischen deutschen und französischen Einheiten. In französischen Depots lagern erhebliche Mengen von Versorgungsgütern der Bundeswehr ... Eine deutschfranzösische Studiengruppe arbeitet seit einigen Jahren an Studien über die langfristige weltpolitische Entwicklung und die Sicherheit Europas in den siebziger Jahren ... Die französische Regierung hat wiederholt erklärt, daß sie das II. Korps in der Bundesrepublik belassen will, solange die Bundesregierung es wünscht. Die Bundesregierung ist dankbar für diese Bereitschaft“.

Das Weißbuch beschreibt die deutsch-britische Zusammenarbeit auf dem Verteidigungssektor in den vergangenen Jahren als „erfreulich eng“. „Sichtbarer Beweis dafür war die Zusammenarbeit bei der Formulierung der neuen NATO-Richtlinien für den defensiven taktischen Einsatz nuklearer Waffen zur Verteidigung Europas.“ Die aus Großbritannien nach Deutschland zurückzuführende 6. Brigade und andere mit ihr zurückkehrende Einheiten sollen die Lücke füllen, die durch den zeitweisen Abzug der kanadischen Truppen entstanden ist. Das wichtigste Vorhaben, an dem Deutsche und Briten — neben den Italienern — zusammenarbeiten, ist das Mehr* zweckkampfflugzeug. „Der physische und geistige Gesamtzustand der Bundeswehr, ihre Kampfkraft und Einsatzbereitschaft brauchen einen Vergleich mit denen ihrer Verbündeten nicht zu scheuen“ ... Diese Erkenntnis ist eines der wesentlichen Ergebnisse der Kritischen Bestandsaufnahme“, heißt es im Weißbuch, das auch feststellt: „Dies bestätigen auch vergleichende NATO-Bewer-tungen.“ Diese Feststellung im Weißbuch erhält ihre besondere Bedeutung dadurch, daß anderseits auch offen von den Fehlern gesprochen wird, die in der Bundeswehr gemacht worden sind.

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