Nein, keiner ist mir gerade verstorben, aber trotzdem. Seit eineinhalb Jahren spiele ich in der Josefstadt "Besuch bei Mr. Green" von Jeff Baron. Und dieser Mr. Green - Premiere war anlässlich meines Achtzigers - ist mir so fest ans Herz gewachsen wie sonst nur Mitterers "alter Mann" in "Sibirien" oder der Nestroy'sche Herr von Fett. Selten, dass man sich mit Figuren, die man spielt, 100-prozentig identifiziert. Diesmal war es so! Dieser grantige, alte, leidende, orthodoxe Jude - nicht nur eine Traumrolle, nein, ein Stück von mir selber ist er geworden. Oder ich ein Stück von ihm?
Lieber Mister Green! Nun geht es nach etwa 90 Begegnungen ans Abschiednehmen. Zwei Mal sehe ich Sie noch in Südtirol, drei Mal in Hamburg (Gastspiel), aber dann, dann sind Sie nur mehr Erinnerung - und Ziel meiner Dankbarkeit. Ich habe Sie genau studiert, kennen und lieben gelernt, Sie grantiger, armer, grundgütiger Mann. Sie haben Ihr Herz, Ihre Liebe, Gottesfurcht und Trauer mit einem Panzer der Unnahbarkeit ummantelt, und es war schwer, Ihnen diesen Panzer ablegen zu helfen. Sie wollten nicht und doch: es ist gelungen. Ich habe Sie durchschaut, Sie zweifelnder, halsstarriger Mensch. Ich habe in meinem Leben einige Menschen kennen gelernt, die so wie Sie - oft mit Recht - "Traue keinem!" gesagt haben, kein Wunder, mit den Schreckensbildern der Schoa vor Augen. Und doch, so wie Ihnen hat man es allen angesehen, dieses Vergessenwollen und nicht -können. Sie allerdings haben den großen Schritt gewagt und getan. Rachel hat wieder einen Vater.
Lieber Herr Green, ich habe Sie kennen und lieben gelernt. Ja, ganz schlicht: lieben. Nicht nur gern haben, das wäre zu wenig - lieben. Und für dieses Gefühl, Mr. Green, möchte ich Ihnen (und Ihrem Schöpfer) danke sagen. Man wird Ihnen noch auf vielen Bühnen und im realen Leben begegnen, und ich wünsche Ihnen, Sie liebenswerter Grantscherm, dass Sie viele Menschen so gern haben werden wie ich. Es war eine schöne Zeit mit Ihnen und Ihrem Geständnis (Ich hab es nicht gewusst!). Trösten Sie sich: Auch ich habe nicht gewusst, dass zwischen einer Rolle am Theater und einem Schauspieler etwas wie Liebe auf den dritten. Blick entstehen kann. Jetzt, Mr. Green, weiß ich es. Ich vergesse Sie nicht - nie! Leben Sie wohl, Vater Green!
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