Schweigen, Gebet, Bibellektüre, ja sogar der vielgeschmähte Sonntagsgottesdienst - all das ist für mich lebenswichtig. Allerdings nicht, weil ich damit mir und anderen meine Frömmigkeit beweise. Sondern weil ohne die traditionellen Formen der Einkehr jedes "Engagement" zum hektischen Aktionismus zu werden droht. Im Gebet, im Schweigen und Lesen, in nachdenklicher Gemeinschaft lässt sich immer wieder erfahren: ich habe mich nicht selbst hergestellt, sondern verdanke mich Anderen. Meiner Mutter, die mich geboren hat, einem schützenden Gemeinwesen und letztlich dem unverfügbaren Lebendigen.
Aus Einkehr schöpfe ich Dankbarkeit und Gelassenheit. Und beide brauche ich, um zu nähren, was mich immer schon genährt hat: die Welt, in der sechseinhalb Milliarden Würdeträgerinnen und Würdeträger zusammen mit unzähligen anderen Lebewesen gut leben wollen.
Lange haben sich die Protestanten denen überlegen gefühlt, die geistliche Praxis "noch" nötig haben. Immanuel Kant meinte, ein Mensch, der die rationale Ethik begriffen habe, brauche kein Gebet mehr. Lieber Immanuel, so sehr ich deinen Scharfsinn schätze, hier irrst du. Wir alle brauchen Andacht, um nicht zu verzweifeln, nicht abzustumpfen, uns nicht selbst zu über- oder unterschätzen.
Im Grunde bedeutet "Glaube" nichts anderes als die Einsicht, sich nicht selbst gemacht zu haben. Diese realistische Einstellung zu unserem bezogenen Dasein braucht täglich Nahrung. Wie das sorgsam gepflegte Vertrauen dann in der Welt wirkt, das hat Martin Luther in seiner Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" schön zur Sprache gebracht: "Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen."
Die Autorin ist Germanistin und evangelische Theologin. Sie lebt als freie Autorin in Wattwil in der Ostschweiz.
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