Mit der Schärfe der Rasierklinge

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Zum siebenten Mal präsentierten sich Wiener Kunst- und Kulturinstitutionen letzte Woche im Rahmen der Vienna Art Week, die dieses Jahr unter dem Titel "Crossing Limits" stand: Grenzüberschreitung wurde als konstitutives Merkmal von Kunst thematisiert.

Eine Rasierklinge mit Roststellen und anderen Alterungsflecken besetzt, darüber ein mit verspielt verschlungenen Buchstaben gesetzter Schriftzug wie aus Zeiten der kalligrafischen Verstiegenheiten. "Crossing Limits" - Grenzüberschreitungen - steht dort zu lesen. Harmlos antiquiert und scharfschneidig aggressiv zugleich ziert dieses Sujet als Logo eine Fülle von Veranstaltungen, die unter der Überschrift Vienna Art Week 2010 die vergangene Woche in Wien eindeutig zu einer Kunstwoche machten.

Vor sechs Jahren wurde die Idee, eine möglichst große Zahl der Wiener Kultur- und Kunstinstitutionen über den Zeitraum einer Woche zu einer Veranstaltungsreihe mit unterschiedlichen Inhalten zusammen zu spannen, das erste Mal in die Realität umgesetzt. Auch in der heurigen Auflage waren alle großen Museen vertreten, die auch sonst übers Jahr Kunstwerke von den alten Hochkulturen über die europäische Geschichte der Kunst bis hin zu dem, was in unserer unmittelbaren Zeitgenossenschaft entsteht, präsentieren. Dies gilt auch für jene Häuser, die sich in ihrem Programm besonders um Architektur, Design oder Alltagskultur von einst und jetzt kümmern, und die wie alle anderen spezielle Führungen von Fachleuten und Kuratoren anboten.

Strategien der Weltaneignung

Aber nicht nur die großen Flaggschiffe der Wiener Kunstszene öffneten ihre Pforten zu diesen speziellen Events, auch jene, die sich täglich wesentlich stärker mit den Besonderheiten des Kunstmarktes beschäftigen, wie die Galerien und Auktionshäuser, und mit departure auch jene Organisation, die sich um die Verstärkung der Schnittfläche zwischen Kunst und Wirtschaft kümmert, klinkten sich in die angepeilten Grenzüberschreitungen ein. Weil es in der Kunst aber nicht nur um die möglichst überzeugende Präsentation von Artefakten aller Art geht, sondern genauso um deren Produktion und um die anhand der Kunstwerke entwickelten Weltaneignungsstrategien, die dem Publikum auch etwas zum Nachdenken mit nach Hause geben, beteiligten sich die Kunstuniversitäten ebenso, die als Stätten der Forschung und der Lehre diesen Aspekt besonders verfolgen.

Wien vermarktet sich weltweit als Kulturmetropole - und das erklärte Ziel der Art Week ist es, dieses Image nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern um den besonderen Gegenwartsaspekt zu erweitern und zu vertiefen. Daher auch das Thema der Grenzüberschreitung als heuriger Schwerpunkt. Allerdings zeigt sich hier eine Verschiebung gegenüber der Variante der klassischen Moderne, bei der das Aufbrechen von Beschränkungen zum Großteil in Form von Tabubrüchen vonstattenging. In unserer Zeit funktioniert diese Strategie vielleicht noch bei der sogenannten Verletzung von religiösen Gefühlen. Heutzutage verstehen die Kunstschaffenden ihre Tätigkeit nicht mehr als eine von außen auf die Gesellschaft einwirkende Kraft, sondern vielmehr als einen Teil der Gesellschaft, der einen eminent wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung von Formen gelungenen Zusammenlebens leistet.

Sensible Grenze privat - öffentlich

Diese zentrale Rolle der Kunst ließ sich während der Art Week an den präsentierten Kunstwerken genauso ablesen, wie an den Diskussionsrunden und dem Interviewmarathon Talking Heads, dem Architekturkongress und den künstlerischen Interventionen, wobei ein spezielles Augenmerk der Performancekunst galt. Umgesetzt in einer eigens dafür organisierten Reihe Speak and Spell, bei der auch die diesjährige Monsignore-Otto-Mauer-Preisträgerin Katrina Daschner beteiligt war, und in einer Tagung zu dieser auf den künstlerischen Prozess bezogenen Kunstform, bei der das Situative und die Betonung von Handlungsabläufen - zumeist unter Körpereinsatz - die Zeitabhängigkeit all unserer Tätigkeit einer besonderen künstlerischen Untersuchung unterziehen. Das Motto der Grenzüberschreitung scheint gerade der Performancekunst wesentlich zu sein, wird dort doch von vornherein disziplinübergreifend gearbeitet und jene sehr sensible Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen vielfach unterwandert.

Wien lebt schon lange nicht mehr nur vom Erbe der Zeit um 1900, was die Rasierklinge mit ihren Altersflecken zeigt, sondern hat sich seit damals auch immer wieder erfolgreich um die je neu zu erringende Schärfe der Rasierklinge bemüht, um so auf die Unterstützung einer lebendigen Kulturszene für die aktuellen und zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht verzichten zu müssen.

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