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Gedichte gegen Depressionen

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Gedichte sind weitaus wirksamer gegen Depressionen als Pharmaka mit ihren unübersichtlichen Nebenwirkungen.

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Gedichte sind weitaus wirksamer gegen Depressionen als Pharmaka mit ihren unübersichtlichen Nebenwirkungen.

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Irgendwo zwischen dem Tag des Waldes und dem Weltmilchtag ist uns einer der vielen Gedenk- und Mahntage abhanden gekommen. Im März nämlich, gichtlich inspiriert von der Romantik der aufsprießenden Natur, feierten bis vor kurzem noch die Dichter den „Tag der Lyrik", um die Öffentlichkeit daran zu erinnern, daß es eine gereimte oder rhythmisch gegliederte Literatur gibt, die auch heute noch existiert.

Das Selbstbewußtsein ist den Lyrikern dabei an diesem Tag gründlich vergangen. Da standen honorige Kulturpreisträger mit wehendem Greisenhaar neben rockigem Dichternachwuchs an Straßenecken und in Fußgängerpassagen und verteilten gratis Blätter mit österreichischer Gegenwartslyrik. Passanten, an die Überreichung von Kaufhausund Lotterieprospekten gewohnt, warfen flüchtige Blicke auf das Papier und dieses dann hinweg. Die Gedichte waren im wahrsten Sinne des Wortes „verzettelt".

Vermutlich mehr aus Mitleid denn aus Bildungsauftrag nahmen sich wenigstens einige Medien der un- und mißverstandenen Dichter an, druckten einmal ausnahmsweise ein Gedicht auf ihre Kulturseite, besprachen einen Lyrikband oder dessen Sekundärliteratur. Der ORF lieh den Dichter-Aktivisten das Mikrophon eines Minderheitenprogramms und riskierte Protestbriefe wegen der ünverständlichkeit der lyrischen Wortungetüme.

Was hilfts: In Japan sind Haiku und Tanka ein literarischer Volkssport - in Österreich dokumentiert die Sonntagmorgensendung „Du holde Kunst" zumindest das gesicherte Repertoire einer zur Kammermusik passenden Textelite.

Und so wäre denn der „Tag der

Lyrik" entschlafen wie die Opern-balldemonstration. Die Spannung ist endgültig weg. Wenn da nicht von der Universität Bristol, von der hierzulande sonst wenig zu hören ist, just zum Abschied des Gedenktages eine aufsehenerregende Nachricht gekommen wäre. Robin Philipp fand nämlich heraus, daß Gedichte weitaus wirksamer gegen Depressionen und allerlei psychische Leiden sind als Pharmaka mit ihren unübersichtlichen Nebenwirkungen. Therapy by Poems soll beachtliche Erfolge gezeitigt haben.

Wenn schon die sprichwörtlich kühlen Briten so auf die Lyrik ansprechen, um wieviel wirksamer müßte die poetische Medikation für die gemütvollen Österreicher sein! Oder treffen vielleicht Woodsworth oder Eliot den Nerv der Seele besser als Okopenko und Artmann? Irgendwie - aber das sollen lieber die Uni-Profis entscheiden - liegt es doch auch an der Form. Aber die ließe sich hierzulande vielleicht noch verbessern.

Denn die Aussichten, endlich einen funktionierenden Markt für ein schwer anbringliches Überschuß-

Produkt zu fmden, sind so günstig wie noch nie. Die Krankenkassen und die Privatpatienten stöhnen unter den Millionenlasten für Psychopharmaka. Mit einem Bruchteil des Geldes könnten die genügsamen Lyriker Österreichs spielend leben und heilsame Gedichte schreiben. Die Kulturförderer und Sponsoren wären endlich des populistischen Rechtfertigungsdruckes bei ihren Lyrikpreisen enthoben und die Literaturzeitschriften könnten ihren Lyrikteil profitabel ausweiten.

Nach Nikotin-Abstinenz und Kondomverteilung könnte vor allem der Gesundheitsminister endlich zu einer von allen Parteien begrüßten Aktion schreiten. Die Krankenkassen übernehmen die Literaturhäuser und Bibliotheken, die Pohtiker schreiben statt Märchen Gedichte, die Nervenheilanstalten leeren sich, eine ungeahnte, poetisch stimulierte Fitneß überkommt die Nation. Die Apotheker allerdings müßten in das Landwirtschafts-Hilfsprogramm der EU einbezogen werden. Bloß Aspirin und Hustensaft sind denn doch zu wenig. Da müßte die Pharma-Denk-malpflege eingreifen.

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