Ferienreife Mütter

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Brigitte Quint über zwei Schuljahre und ihr wahres Ich.

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Brigitte Quint über zwei Schuljahre und ihr wahres Ich.

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Irgendwo bin ich falsch abgebogen. Zwei Jahre sind wir nun in der Schule. Ja, „wir“. Ich bin eins geworden mit dem Schulalltag meines Kindes. Er bestimmt, diktiert, tyrannisiert mich.
Der tägliche Wahnsinn startet gen 6.45 Uhr: Das Kind wach kriegen, Frühstück, Jause vorbereiten – um dann festzustellen, dass wahlweise Brot, Bananen, Äpfel ausgegangen sind. Die Uhr tickt grausam. Wir hetzen zum Zähneputzen, zum Kleiderkasten, zum Schuhregal. In meinem Kopf wirbeln Fragen herum. Ist die Hausübung kontrolliert? Steht ein Ausflug an? Müssen wir Fahrscheine, Regenjacke, Zusatzjause mitgeben? Ist heute der Rückgabetermin in der Bücherei? Wenn ja, unter welchem der Spielzeugstapel liegen die verdammten Bücher? Ich schwitze, mein Puls rast. Was, wenn mein Kind unpünktlich ist; ohne Jausenbox dasteht; Schwarzfahren muss; oder (und diesen Punkt halte ich mit Abstand für den wahrscheinlichsten) ein Trauma ob seiner gestressten Mutter davonträgt?
Ich frage mich, ob es diesen Augenblick gibt, an dem das Leben eine Wendung nimmt. Mütter, Eltern – sie haben die Wahl. Solche gibt es durchaus, die aus der Jause kein Tamtam machen, deren Kind ständig unvollständige Hausübungen abgibt, erst in der zweiten Stunde in den Unterricht platzt, Karies hat. Selbstgeißelung ist für die ein Fremdwort. Die sind fix entspannt. Ich habe eine Theorie: Ganz tief in mir drin bin ich eine von denen. Ich übertünche es nur. Daher der morgendliche Stress. Zu entsprechen kostet Energie.
Ich zwinge mich das Spiel mitzuspielen, zu funktionieren. Obwohl es mir zutiefst widerstrebt. Der gemeine Küchenpsychologe würde möglicherweise eine Ich-Schwäche ins Treffen führen. Nach dem Motto: Bloß nicht unangenehm auffallen, das entlarvt die eigene Unfähigkeit.
Ich gehe in diese Ferien mit dem Gefühl: Es war haarscharf, aber es ist gerade noch mal gut gegangen (bis auf das Trauma, das sich wohl erst im Teenageralter Bahn bricht). Der morgendliche Wahnsinn setzt nun neun Wochen aus.
Ich habe eine neuerliche Chance auf einen sommerlichen Entwicklungsschub. Ja, „ich“. Wer hat Angst vor der dritten Klasse? „Ich“ nicht. Noch nicht.

Lesen Sie auch die Quint-Essenz: "Buben in Röcken" oder "Ruf mich nicht an!".

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