Prebivalište
Als ich klein war, übersetzte meine große Schwester den Eltern alle Formulare. Noch heute tut sie das mit derselben Sorgfalt wie damals.
Als ich klein war, übersetzte meine große Schwester den Eltern alle Formulare. Noch heute tut sie das mit derselben Sorgfalt wie damals.
Als ich klein war, übersetzte meine große Schwester den Eltern alle Formulare. Jahrelang beobachtete ich meine Familie, wie sie sich über den Küchentisch gebeugt mit Amtspapieren abmühte. Worte wälzten durch die Luft, die ich mit sechs Jahren nicht durchdringen konnte. Verwirrt sah ich Papier voller schwarzer Kästchen und Balken. Darin die zögerliche Schrift meiner großen Schwester, die als Erste von uns Deutsch gelernt hatte. Die Buchstaben lagen weit auseinander, die Tinte wolkte an den Wortanfängen blaue, dicke Kleckse. Jedes Wort war wichtig, denn es half uns, weiterhin in Österreich zu bleiben. Wenn meine Schwester heute Formulare ausfüllt, selbst belanglose, tut sie es mit derselben Sorgfalt wie damals. Das Zögern ist aus ihrer Schrift gewichen und die Buchstaben haben sich einander angenähert. Doch als ich kürzlich in der kroatischen Botschaft saß, wurde meine Schrift zögerlich. Ich beugte mich über den Tisch, blickte verwirrt auf mein Datenblatt und stockte: Das Wort „prebivalište“ war mir fremd. Die Frau am Schalter füllte das Formular für mich aus. Am selben Abend fragte ich meine Eltern am Telefon, was „prebivalište“ bedeute. Sie lachten. Es war eines dieser lebenswichtigen Wörter, die sie zigmal in schwarz umrandete Balken geschrieben hatten. Wörter, die wolkten, ohne verrinnen zu dürfen. „Prebivalište“ bedeutet „Wohnort“.
FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet.