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DISKURS
Zandar - © Illustration: Rainer Messerklinger

Žandar

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Ich stelle mir vor, ich hätte einen Žandar in der Hand. Ich weiß, wann ich meinen Trumpf ausspielen muss.

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Ich stelle mir vor, ich hätte einen Žandar in der Hand. Ich weiß, wann ich meinen Trumpf ausspielen muss.

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Als ich klein war, spielte ich mit meiner Großmutter „Žandar“, ein beliebtes Kartenspiel auf dem Balkan. Ziel des Räuberspiels ist es, möglichst viele Karten durch das Addieren ihrer Zahlen zu sammeln. Die Karo-Zehn und die Pik-Zwei zählen am Ende je einen Punkt. Doch letztlich dreht sich alles um den Buben: den Žandar. Hat man ihn in der Hand, darf man alle Tischkarten auf einmal abräumen. Oft wartete ich mit meinem Buben in der Hand, um Großmutter noch mehr Karten zu entlocken. Kurz bevor ich ihn endlich ausspielen konnte, räumte sie jedoch alles ab. Dabei rollte Großmutter ihren Zahnstocher lässig auf die andere Seite ihres Mundwinkels und ließ ihren Buben auf die Mitte des Tisches fallen. „Du hast zu lange gewartet“, schmunzelte sie spitzbübisch, während sie die Karten mit einer Handbewegung in ihren Schoß wischte. Nach jedem Sieg ging sie eine Zigarette rauchen, richtete ihre Lockenwickler und forderte mich zu einer neuen Runde auf. Wenn ich heute unsicher bin, denke ich an Großmutters maskenhafte Spieler-Miene. Ich stelle mir vor, ich hätte einen Žandar in der Hand. Ich weiß, wann ich meinen Trumpf ausspielen muss. Damit dürfe man nie zu lange warten, meinte Großmutter, die im Jugoslawienkrieg mit uns nach Kärnten geflüchtet war. Wenn man zu langsam sei, verliere man alles, sagte sie und lächelte. In ihrem Mund war der Zahnstocher, aber keine Zähne mehr.

FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet.

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