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mozaik

DISKURS
Eistraum - © Illustration: Rainer Messerklinger

Eistraum

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Ich kenne niemanden, den es so friert wie mich.

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Ich kenne niemanden, den es so friert wie mich.

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Mir ist kalt. Ich kuschle mich in mein Lammfell, ich wickle mich in meine Kamelhaardecke, der Heizkörper glüht, aber mir ist kalt. Ich kenne niemanden, den es so friert wie mich. Als Kind jedoch hatte ich meinen Eistraum: Jeden Winter lief ich mit meiner Schwester und meinem Cousin zu einem kleinen gefrorenen Teich auf einer Lichtung. Magisch zog uns das Eis am Rande der Siedlung an. Mit meinen Kinderhänden schnürte ich mir die schwarzen Eishockeyschuhe, die einst dem Nachbarbuben gehörten. Sie waren so groß, dass ihre Verschalung gegen meine Kniescheiben drückte. Mit den überdimensionalen Schuhen drehte ich hunderte Runden auf dem winzigen Teich. Stumme, starre Pflanzen ästelten mir entgegen. Frostgräser und steife Schilfstiele durchbohrten die schwarzblaue Eisdecke. Eines Tages kam eine alte Frau mit Hund vorbei. Sie klopfte mit ihrem Stock auf das Eis und rief mir zu: „Då is amål a Madale ertrunk’n. Vielleicht is’ sie imma noch då unt’n.“ Ich drehte um, wollte Schwester und Cousin warnen, doch sie waren nicht mehr da. Plötzlich begann das Eis zu knacken. Ich stürzte nach unten und landete in eine Kamelhaardecke eingewickelt auf dem weichen Lammfell auf meinem Lesestuhl.

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FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet.

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