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mozaik

DISKURS
Ceif - © Illustration: Rainer Messerklinger

Ćeif

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FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet.

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FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet.

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Den Arabern haben wir Bosnier unseren ćeif zu verdanken. Er beschreibt den Zustand der Selbstvergessenheit, einen Moment der Seelenruhe. Ich ahnte ihn, wenn Großmutter auf dem Balkon rauchend in die Ferne blickte und ihren Diamantenring am kleinen Finger drehte. Ich beobachtete, wie sich Männer in der Altstadt von Sarajevo versammelten, um in der Nähe des Theaters Bodenschach zu spielen. Sie diskutierten laut, wirbelten die schwarzen und weißen Figuren in Übergröße über das Brett, als würden sie mit ihnen tanzen. Uhrzeiten, Arbeitspflichten, Alltagsprobleme existierten nicht mehr. Der ćeif ist so wichtig, dass man eine Geschichte erzählt: Eines Tages saßen fünf Taxifahrer um einen kleinen Kaffeetisch in der Baščaršija, der historischen Altstadt von Sarajevo, als ein Mann aufgeregt zu ihnen rannte. „Sie müssen meine Großmutter ins Krankenhaus fahren, sie hat etwas mit dem Herzen“, rief er. Die Männer rührten keinen Finger, blickten ihn an und antworteten: „Beruhige dich doch, du machst uns sonst noch unseren ćeif kaputt.“ Wenn ich heute im Augarten bosnischen Bocciaspielern zuschaue oder zum Kaffee zuckersüße türkische Desserts genieße, denke ich manchmal an die Baščaršija. Ich blicke auf mein Smartphone. Mein Herz rast, und der ćeif ist längst mit dem Taxi davongefahren.

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