Tomic - © Foto: privat

Von Sarajevo bis Wien: Meine Kindheit, ein Märchen

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FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic schreibt in ihrer Kolumne „mozaik“ über Flucht, Identität und Heimat. Nun sind die Miniaturen als Buch erschienen. Hier erzählt sie, wie es dazu kam.

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FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic schreibt in ihrer Kolumne „mozaik“ über Flucht, Identität und Heimat. Nun sind die Miniaturen als Buch erschienen. Hier erzählt sie, wie es dazu kam.

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Vergangenen Sommer urlaubte ich bei meiner Großmutter in Bosnien in unserem Dorf Tomići. Wir saßen an einem heißen Nachmittag unter dem Terrassen-Dach, auf dem Reben wucherten. Da trat Mladen zu uns an den Tisch: Der Mann, der denselben Namen wie mein Vater trägt, war um die 50, ganz dick und humpelte mit seinen Krücken auf uns zu. Oma fragte ihn, ob er einen Sliwowitz trinken wolle. „Weißt du noch, wie sie uns im Krieg mit Sliwowitz betäubt haben“, fragte er meinen Onkel. Dann erzählte Mladen seine Geschichte: 1991 durchschoss eine Kugel seine Wade im Hagel. Ein Sanitäter zerrte ihn aus der Schusslinie. „Das Bein muss ab.“ Er flößte ihm Rakija ein, bis Mladen das Bewusstsein verlor. Nach der Amputation befohl der Arzt, das Bein wegzutragen. Den Stiefel behielt er zurück. Mladens Bein plumpste in ein offenes Grab. Der Stiefel wanderte zurück an die Front.

Mein Kopf brummte. Wieder eine Geschichte, wieder ein „mozaik“! Seit drei Jahren erscheint in der FURCHE meine Kolumne namens „mozaik“. Als ich anfing, über Identität und Fremde zu schreiben, war mir nicht klar, dass meine kurzen Geschichten zu einer Familienchronik werden würden. Wenn man im Krieg alles verliert, oder auch nur sein Bein, bleiben einem nur noch Geschichten. Und so begann ich, alle Erinnerungen meiner Familie aufzuschreiben und in Märchen zu verwandeln. „Du holst deine Kindheit nach“, sagte mein Freund, „und dichtest immer noch etwas hinzu“. Ja, ich dichte immer etwas hinzu. Deshalb erscheinen meine „Zehnfingermärchen“, die gesammelten Prosaminiaturen, nun im Kärntner Wieser Verlag. Woche für Woche tippte ich in die Tasten und beschwor unseren Nymphensittich Kokolo, der lieber ein Ara wäre, meinen Großvater, der jugoslawische Dinar im Radio versteckte, Nikolett, meine Schulliebe oder sinnierte über bosnischen Kič.

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