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Michael gewährt ein Interview

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Guten Tag, sagte der junge Mann vor der “Įur, mein Name ist ohne Belang, dürftp ich Ihren Sohn interviewen?

Das wird ein Irrtum sein. Mein Sohn ist erst vier Jahre alt.

Vier Jahre, jawohl, stimmt. Gerade deswegen komme ich zu ihm.

Ich verstehe nicht…

Sie brauchen auf keinen Fall besorgt zu sein, es ist nur…

Bitte kommen Sie weiter, sagte jemand.

Ich sah mich um. Es war Michael. Er führte den Fremden in mein Zimmer, bot ihm einen Sessel an und setzte sich auf meinen Platz beim Schreibtisch.

Rauchen Sie, fragte Michael freundlich und schob dem Eindringling die Schachtel mit meinen besten Zigarren hin.

Oh, besten Dank!

Feuer?

Danke, ich bediene mich selbst.

Mitfiael lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und wartete geduldig, bis sich der Interviewer in Qualm gehūįlt hatte.

Ich komme von der Internationalen Vereinigung für die Erringung des Mitbestimmungsrechtes der Kinder, begann er etwas unsicher. Diese Vereinigung will…

Ich weiß, unterbrach ihn Michael, ich bin Mitglied der Leitung des hiesigen Landesverbandes.

Oh, um so interessanter! Der bereits mit einem Bleistift Bewehrte sog aufgeregt an der Zigarre. Da können wir gleich die erste Frage stellen. — Was sind im Augenblick ihre größten Sorgen und Schwierigkeiten?

Wir Kinder pflegen Brüderlichkeit. Bleiben wir also beim Du, begann Michael dann betrachtete er eine Weile seine Fingernägel. — Meine größten Sorgen und Schwierigkeiten? — Schreibe, und bitte, wenn du nicht mitkommst, sag es ruhig.

Ohį ich stenographiere. Also?

In erster Linie sind da meine Eltern — das ist meine Sorge — und die Schwierigkeit, ich sehe keinen Weg, sie bessern zu können. Erwachsene nehmen sich zu wichtig.

Oh, sehr interessant! Es ist immer wieder dasselbe. Der Mann schüttelte lebhaft den Kopf. Und was bedrückt dich in zweiter Linie!

Die Art der Eltern meiner Mitschwestern und -brüder. Da liegen die Dinge meistens noch schlimmer als in meinem Fall.

Aha! Bitte zurück zu deinen Eltern, Könnten wir da deine Sorgen vielleicht etwas präzisieren?

Gern, doch da muß ich etwas weiter ausgj-eifen, Vor allem muß ich betonen,

daß meine Eltern ein gewisses Niveau haben. Du brauchst dir nur hier das Zimmer meines Vater anzusehen.

Bereits notiert. Erlesener Geschmack, Sofort notiert.

Aber auch sonst. Sie haben Stil. Etwas, was ich bei anderen Eltern nur selten finden kann. Ebenso beantworten sie meine Fragen in einer durchaus entsprechenden Weise. Es wäre mit ihnen auszukommen, wenn sie nur nicht so verlogen wären.

Der Bleistifthalter rang nach Luft. Verzeih, verstehe ich richtig? — Verlogen?

Ein hartes Wort. Ich weiß. Aber ich muß dabei bleiben, sagte Michael mit Nachdruck.

Der Interviewer paffte aufgeregt den Rauch aus und verbrannte sich die Finger.

Schon am Morgen fängt es an, fuhr Michael fort. Kaum ist mein Vater aus dem Haus, stürzt meine Mutter zum Wäscheschrank, holt aus ihrem Versteck ihr Zigarettenetui hervor und beginnt zu rauchen. Sehe ich sie vorwurfsvoll an, droht sie, daß du ja nichts Vati sagst! — Du mußt nämlich wissen, warf er erklärend ein, mein Vater will nicht, daß Mutter raucht. Bevor er nach Haus kommt, reißt sie dann alle Fenster auf, putzt sich die Zähne und spült sehr lange den Mund. Findest du das richtig?

Interessant, ich finde das sehr interessant.

Aber das ist nicht alles. So läßt sich Mutti zum Beispiel in unserer Wohnung von einer Schneiderin Kleider nähen. Dem Vater erzählt sie aber, sie hat die Kleider selbst gemacht. Ich muß das alles mit ansehen und schweigen. Wird es mir zu bunt und ich möchte ein bißchen hinaus — wir haben es sehr nett vor dem Haus —, heißt es auch da wieder, daß du ja nichts dem Vati sagst. Vater will nämlich nicht, seufzte der Vierjährige.

Verzeih, wenn ich dich unterbreche, der Interviewer steckte sich vor Aufregung die Zigarre verkehrt in den Mund, du sagtest noch nichts von den Fehlern deines Vaters.

Ich komme schon darauf, entgegnete Michael müde. Bei meinem Vater liegen die Dinge womöglich noch ärger. Gehe ich mit ihm fort, und er führt mich in eine Konditorei, betont er ununterbrochen, daß ich davon Mutti nichts sagen dürfe. Sie darf nicht wissen, daß ich eine eiserne Reserve habe, erklärt er dann immer. Kannst du dir vorstellen, daß mir unter solchen Umständen manchmal die beste Torte nicht schmeckt? Oder mein Vater kauft Briefmarken, er ist ein leidenschaftlicher Sammler, und ich muß dann daheim bestätigen, daß er sie bei Onkel Helmut getauscht hat.

Äußerst interessant, Michael, Deine Auskünfte sind von großer Bedeutung. Der Mann griff zu einem neuen Bleistift.

Am schlimmsten ist es aber am Sonntag. Michael schlug die Hände in einer hilflosen Gebärde zusammen.

Sonntag? Wieso?

Sonntags erklärt mein Vater öfter, er müßte mich wieder einmal in die Kirche führen. Und was glaubst du, wo wir landen?

Keine Ahnung.

Auf dem Fußballplatz. Mein Vater ist Anhänger von irgendeinem kleinen Verein. Da muß er einfach hin. Natürlich darf ich auch davon nichts verraten. Mutti findet nämlich Fußball ordinär. Meint sie einmal, wir wären lange fort gewesen, wenn wir heimkommen, gerät mein Vater überhaupt nicht in Verlegenheit. — Dafür war es heute ein Hochamt, sagt er einfach.

Hochamt, hehel Erstaunlich! Der Mensch mit dem Bleistift wurde direkt unverschämt. — Vielleicht noch ein abschließendes Detail über deine Eltern?

Ja, etwas, was ich ganz und gar nicht mag. Manchmal hört mich der Vater über die Mutter und die Mutter über den Vater aus. Raucht Mutti wirklich nicht? Kauft Vati wirklich keine Briefmarken mehr? Näht Mutti wirklich ihre Kleider selbst? Geht Vati wirklich nicht mehr auf den Fußballplatz? Kannst du dir vorstellen, wie das auf mich wirkt? Und ich muß sie anlügen, damit sie weiter voneinander die beste Meinung haben. Es ist zermürbend! — Noch eine Zigarre?

Oh, verbindlichen Dank! Der Kerl nahm die zweite Zigarre von meinen besten. Wir haben da noch einige Fragen. Hier die nächste: Wovor hast du am meisten Angst?

Hm, räusperte sich Michael, wenn ich wirklich offen sein darf, ich habe die meiste Angst davor, als Erwachsener so zu sein wie meine Eltern.

Danke, das genügt. Der nächste Punkt: Wie können wir eine. Besserung der Menschheit im allgemeinen und der Kinder im besonderen erreichen?

Das ist sehr schwer zu beantworten. Michael untersuchte wieder seine Fingernägel. Ich würde sagen, es ist verfehlt, eine Besserung vom Kind zu verlangen. Wir müssen endlich klar sehen und die Eltern zu besseren, wirklich gefestigten Menschen zu machen. Dann erst, wenn die Eltern nicht mehr versagen, wird es auch bessere Kinder geben.

Der Interviewer klatschte in die Hände. Das wird mein bestes Interview, freute er sich. Ich garantiere dir, daß es in der vielsprachigen Zeitschrift der Internationalen Vereinigung für die Erringung des Mitbestimmungsrechtes der Kinder veröffentlicht wird.

Oh, flüsterte Michael verlegen, das wäre mir gar nicht recht.

Ja, aber wie sollen wir denn sonst die Erwachsenen zu richtigen Eltern erziehen? Das ist nämlich gleich die nächste Frage: Was hältst du von der Errichtung von Besserungsanstalten für Eltern?

Ich denke gerade darüber nach, ob es nicht doch gescheiter wäre, wir Kinder würden uns vornehmen, gute, wirklich gute Eltern zu werden.

Aber du sagtest doch eben …

Glaub’ mir, ich kann manchmal nicht einschlafen, weil meine Eltern mir solche Sorgen machen. — Wir Kinder sind so allein…

Der Mann, der bereits mit dem dritten Bleistift schrieb, war enttäuscht. Wenn ihr so weiche Herzen habt, rief er, wird es nie etwas mit eurer Mitbestimmung werden. Er packte seine Papiere zusammen und stand auf. Schon im Vorzimmer besann er sich. Halt, die letzte Frage, er klatschte sich mit der flachen Hand auf seine Stirn, beinahe hätte ich sie vergessen. Glaubst du, daß Gott den Kindern wirklich am nächsten ist?

O ja, antwortete Michael, vielleicht gerade deshalb, weil sie Eltern haben.

Der Mann notierte noch schnell die Antwort. Bin in Eile, lachte er dann breit, besten Dank. Wiedersehen, Kleiner! Bums! fiel die Tür ins Schloß.

Vati! rief Michael. Vati! Vati, mach Platz, ich möchte zu dir!

Da stand er, der Vierjährige mit bloßen Füßen, seinen Bären in der Hand. Ich rückte zur Seite, und er kroch zu mir ins Bett. — Hatte ich nur geträumt?

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