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Die Bekanntschaft mit Nemetschek

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Ich traf ihn, als es mir gerade gelungen war, meinen Wagen in eine Parklücke zu manövrieren, die schätzungsweise halb so lang war wie das Fahrzeug. Stolz ob dieser Leistung und wohl noch ein wenig davon irritiert, betrat ich das Trottoir. Dort stand er und begrüßte mich überaus herzlich. Ich erkannte ihn nicht, vermutete wohl auch einen verwirrten Augenblick lang, er sei einfach ein zufälliger Passant, der mich aufmerksam machte, daß ich etwa zur Hälfte auf dem Trottoir stand oder mit der Stoßstange allerlei Verblüffendes angerichtet habe. Aber nein: er schüttelte mir die Hand, wies auf das Haus, vor dem wir standen, und meinte, da wohne ich also.

Ja, da wohnte ich — es ließ sich nicht leugnen. Wie ich mich hier fühle. Gut, gut, aber wer war er nur? Ich suchte krampfhaft, sein Antlitz irgendwo einzuordnen, Beziehungen zu Geschehnissen und Erinnerungen herzustellen. Vergebens. Am einfachsten wäre gewesen, ihn einfach zu fragen. Aber die Sekunde, in der dies noch möglich gewesen wäre, war verpaßt. Kannte er mich etwa von der Zeitung? Kürzlich erst hatte der Chefredakteur gesagt, man solle nett zu Lesern sein. Immerhin: ich machte mit ihm bereits so herzliche Konversation, daß jede Frage ungeheuerlich gewesen wäre. Zumal er mir jetzt sagte, es treffe sich gut, daß er gleich um die Ecke wohne. Ich müsse ihn wirklich einmal aufsuchen. Ja das müsse ich wirklich, gab ich kleinlaut bei, indem mein Gehirn hämmerte: „Wer? Wer? Wer?”

Wir wollten es gleich fest verabreden, hörte ich ihn sagen. Samstag um fünf. Er sagte mir Haus- und Türnummer, dann entglitt er mir wie ein Mann, der alles zum besten bestellt hat. Immerhin: ich wußte Haus und Tür — Samstag um fünf würde ich erfahren, mit wem ich mich eben so herzlich unterhalten hatte.

Zur verabredeten Zeit stand ich vor der Villa. Sie wies allerlei Erker und Balkönchen auf, in aller Höhe prangte ein mit Zierat übersäter Turm, darauf eine Renaissance-Fensterantenne. Wer von meinen Bekannten mochte so wohnen? Dann stand ich vor seiner Wohnungstür, begierig des Rätsels Lösung zu erfahren. Dort stand: „Nemetschek”.

Ich war mir keiner Unterlassung bewußt. Ich kannte keinen Herrn Nemetschek. Aber schon hatte er die Tür aufgerissen und zog mich mit herzlichem Händedruck herein. Da gab es noch seine

Frau und meine Frau, und wir redeten lange und ausführlich. Vielleicht ein bißchen allgemein, denn jeder Versuch, in das Geheimnis seiner Existenz einzudringen, wurde von ihm mit aalglatter Liebenswürdigkeit abgewehrt. Wenn ich mich seiner schon nicht entsann — es mußte gemeinsame Bekannte geben, in deren Gesellschaft ich ihm zweifellos irgendwann — ohne seinen Namen zu behalten — begegnet war. Ich ließ meine Versuchsballons steigen. Ob es dem Professor Soundso gut gehe? Ob er gelegentlich den Doktor X sehe oder den gewissen Regierungsrat? Aber was ich aus ihm herausbekam, war freundliche Verlegenheit und die Bemerkung, ich müsse wohl ziemlich viele Leute kennen. Ich verabschiedete mich resigniert. Und sagte natürlich, er solle auch uns einmal das Vergnügen machen.

Zu Weihnachten schickte er einen Korb mit Wein. Und wir einen Korb mit Likör. Wir wünschten einander ein gutes Neujahr. Und später fröhliche Ostern. Ich sondierte meine Bekannten daraufhin, wer von ihnen wohl des Umgangs mit Herrn Nemetschek verdächtig sein könnte. Eine gewissenhafte Umfrage blieb ohne Resultat. Je öfter wir uns sahen, desto unmöglicher erschien es, direkte Fragen zu stellen. Ich gab die Hoffnung, dieses Rätsel doch eines Tages lösen zu können, mehr und mehr auf. Da starb er. Ganz plötzlich, ohne Krankheit

— ich wäre ja von jeder Schwankung in seinem Befinden unfehlbar verständigt worden, wie das eben unter guten alten Bekannten selbstverständlich ist. Er würde mir fehlen. Aber in mir keimte eine Hoffnung auf. Würde die Todesanzeige endlich enthüllen, welchem Beruf er nachging, welches Unternehmen um seinen Verlust trauerte?

Ich sollte auch hierin enttäuscht werden. Die Anzeige war wortkarg, von ausgesuchter Bescheidenheit, streng familiär. Sie teilte nicht mehr mit, als daß er plötzlich dahingerafft worden sei, tief betrauert von der Witwe, von Nichten, Neffen und Enkeln. So standen wir bekümmert um Herrn Nemetscheks Grab. Und in mir nagte die Frage, wurde unerträglich. Die Ungewißheit trieb mich zur Brutalität. Und als ich Gelegenheit fand, mit seiner Witwe ein paar Worte unter vier Augen zu wechseln, da wagte ich es endlich. Sie möge mir doch sagen

— mein Gedächtnis sei so erbärmlich schlecht — wann der Verblichene und ich uns zum erstenmal gesehen hätten. Sie möge mir verzeihen, daß jene ferne Begegnung mir irgendwie auf unerkärliche Weise entschwunden sei.

Das sei eine traurige Geschichte, erwiderte sie. Viel Kummer habe sie ihrem Gatten im Lauf der Zeit bereitet und nie habe er den Mut gefunden, mit mir darüber zu sprechen. Damals nämlich, als er mich auf der Straße so überaus herzlich begrüßt habe - da habe er mich mit jemand ganz anderem verwechselt.

Da stand ich nun. Er hatte sein Geheimnis ins Grab genommen. Nie würde ich Näheres über seine Existenz erfahren. Ein Rätsel ohne Lösung. Und nun frage ich Sie: Wer war Herr Nemetschek wirklich?

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