Diät - Motor der Magersucht

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Diät - damit war ursprünglich nicht Selbstkasteiung zur Erreichung eines von Mode und Medien vorgegebenen "Idealgewichtes" gemeint. Diätetik, wie Hippokrates sie verstand, sollte ein "Leben im Einklang mit der inneren und äußeren Natur des Menschen ermöglichen".

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Diät - damit war ursprünglich nicht Selbstkasteiung zur Erreichung eines von Mode und Medien vorgegebenen "Idealgewichtes" gemeint. Diätetik, wie Hippokrates sie verstand, sollte ein "Leben im Einklang mit der inneren und äußeren Natur des Menschen ermöglichen".

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Die Salzburger Sozialwissenschafterinnen Birgit Buchinger und Beate Hofstadler haben mit ihrem Buch "Warum bin ich dick?" eine informationsreiche Kultur- und Sozialgeschichte des Übergewichts vorgelegt.

Diätetik "als "Lehre von der Lebensweise" meinte ursprünglich die Gestaltung eines schönen Daseins. Auch war der Begriff "Diät" jahrhundertelang nicht auf die Bedeutung "Abmagerungskur" beschränkt. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es dazu, daß "für viele die Diät nicht länger ein Heilverfahren, sondern ein wichtiger Bestandteil eines häufig fanatischen Strebens nach Schlankheit" wurde. Erschreckendes Fazit: "Die Medizin spielte nicht nur eine wichtige Rolle bei der Medizinalisierung der Selbstaushungerung, sie lieferte für ein neues ,Leiden' auch die wichtigste Methode: die Diät, den Motor der Magersucht."

Aus der kritischen Darstellung der Autorinnen geht hervor, daß auch so häufig - und mitunter leichtfertig - gebrauchte Begriffe wie "Übergewicht" oder "Adipositas" bis heute nicht eindeutig festgelegt wurden. Der Begriff "Adipositas" etwa tauchte "vereinzelt schon in den Texten der 20er Jahre unseres Jahrhunderts auf" und meint etwa "Fettigkeit", "Dickleibigkeit" oder "Fettleibigkeit".

Ab wann allerdings von einer "übermäßigen Fettansammlung" gesprochen werden könne, darüber herrscht bis heute Uneinigkeit. "Bis ins 19. Jahrhundert hinein genügen für die Identifizierung von Adipositas das subjektive Leiden an Dickleibigkeit, die durch sie verursachten Beschwerden und vor allem der Anblick der Dicken."

Auf solch schwammigen und unexakten Grundlagen kämpfen also vor allem so viele Frauen um - ebenso wenig genau angebbare - "Idealmaße" und "Idealgewichte".

Die Einheiten dieser "Quantifizierungslust" werden erklärt: So gingen etwa die gängigen Formeln "Normalgewicht = Körpergröße (cm) minus 100" und "Idealgewicht = Normalgewicht minus 10-15 Prozent" auf die Untersuchungen von Paul Broca zurück (Broca-Index). Mit seiner Vermessung der Körpergröße der männlichen Bevölkerung Frankreichs sollte Broca "eine hochwertige Rasse, die Kelten, und eine minderwertige Rasse, die Kymrier, nachweisen". Sozial unterschiedliche Versorgungslage und andere Faktoren seien dabei nicht berücksichtigt worden.

Diesen quantifizierenden Ansätzen und der klinischen Behandlung der Fettsucht (es gibt heute rund fünfzig verschiedene chirurgische Methoden zur "Übergewichtsbehandlung") stellen die Autorinnen differenziertere Konzepte gegenüber, die versuchen, die physischen und psychischen Aspekte einer "dicken Lebens-Geschichte" zu berücksichtigen: "Bemerkenswert ist, daß sich vor allem Frauen um einen differenzierteren Umgang mit Eßstörungen be-müh(t)en."

Bemerkenswert an der Darstellung von Buchinger/Hofstadler ist die Genauigkeit, mit der auch die innovativen, von einem feministischen Denken beeinflußten Ansätze, auf alte Muster hin ("Frauen als Opfer"; "Alle Dicken sind gleich") untersucht werden.

Vorgestellt wird etwa der Ansatz von Hilde Bruch, die sich in ihren Arbeiten schon vor gut 25 Jahren gegen den "Trend zur Pathologisierung von Übergewicht" richtete. Anstatt sich auf die Gewichtsabnahme zu fixieren, sei es vorrangig, "daß sich diese Menschen auf die zugrundeliegenden Probleme einlassen können". Zwei Merkmale seien, nach Hilde Bruch, für die Entwicklung schwerer Eßstörungen von fundamentaler Bedeutung: "Die Unfähigkeit, Hunger und andere Körperempfindungen zu erkennen, und fehlendes Bewußtsein darüber, daß es das eigene Leben zu leben gilt."

Kunstprodukt Frau Das via Medien täglich, ja stündlich vermittelte Bild vom "Kunstprodukt Frau" ist für die Vertreterinnen eines explizit feministischen Zugangs eine Nahtstelle für Eßstörungen. "Dieses Bild läßt sich als Projektion einer phantasierten Weiblichkeit von Männern umschreiben und ist nicht geprägt von weiblichen Entwürfen von Weiblichkeit."

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die behutsam recherchierten Fallgeschichten von sechs Frauen unterschiedlichen Alters und sozialen Herkommens.

"In Gesprächen fiel uns auf", so die Autorinnen, "daß es oft gar nicht um das Gewicht als solches zu gehen schien, als vielmehr um ein ,leichteres Leben'". Oft handle es sich dabei um den Wunsch nach zwischen-menschlicher Nähe, nach Gesundheit oder nach sozialer Akzeptanz.

"Die Ambivalenz, abnehmen zu wollen, es aber nicht zu tun, hat einen Sinn. Es gibt Menschen, die besser damit zurechtkommen, übergewichtig zu sein - so einschränkend das im Alltag auch erlebt werden mag - weil dadurch die im Verborgenen liegenden Konflikte in Schach gehalten werden. Dies erklärt, warum eine Gewichtsreduktion erst dann sinnvoll ist, wenn die dahinter liegenden Probleme gesehen und gespürt werden."

Solange Essen und Dicksein jedoch eine Ventilfunktion erfüllen, würde eine Gewichtsreduktion nur ein Symptom bekämpfen. Das verdeutlicht, daß Dicksein als unbewußte Lebensstrategie und als Teil komplexer Lebenspraktiken verstanden werden muß. Daß es gerade Essen ist, das als Strategie angewendet wird, hängt mit früheren Lebensphasen zusammen, in denen die Weichen für ein dementsprechendes Verhaltensmuster gestellt wurden.

"Warum bin ich dick? Lebensprobleme und Übergewicht bei Frauen."

Von Birgit Buchinger und Beate Hofstadler Döcker Verlag, Wien 1997, 246 Seiten öS 218.

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