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Die kleinschreiber sind gegen den Fortschritt
J^JJ lese, daß der Unterrichtsminister in Deutschland auf die Frage eines Neugierigen mitgeteilt hat, er glaube nicht, daß die Reform der deutschen Rechtschreibung noch in diesem Jahrzehnt beschlossen werden könnte. Welche Reform? Der Fragende in Deutschland hatte wohl die „kleinschreiber“-Initiative gemeint und nicht jene Korrektur, die etwa das ß durch ss ersetzen möchte. Denn gerade an den großen Anfangsbuchstaben der Hauptwörter scheiden sich die Geister.
Ich teile die Skepsis des Doktor Sinowatz. Wir, Menschen des mittleren Europa, haben in diesen Jahren fürwahr wichtigeres zu tun als über das Schriftbild zu diskutieren. Wir wollen, zum Beispiel, weiter fortschreiten in der Modernisierung der Demokratie.
Der Verzicht auf die großen Anfangsbuchstaben der Hauptwörter führt jedoch genau in die umgekehrte Richtung: dieser Verzicht würde einen Rückfall bedeuten auf eine Entwicklungsstufe, die bereits überwunden worden ist — und zwar überwunden im Zeichen der Demokratisierung. Denn die Einführung der großen Anfangsbuchstaben ist ein entschiedener Fortschritt gewesen und hat für das allgemeine Verständnis der Sprache ein zusätzliches optisches Mittel erobert. Durch die graphische Unterscheidung ist der Text leserlicher, die Bedeutung verständlicher, das Bewußtsein klarer geworden.
Die „kleinschreiber“-Initiative ist eine regressive Bewegung.
In Österreich wird diese reaktionäre Bewegung von der „gesell-schaft für Sprachpflege und recht-schreiberneuerung“ eines Herrn Pacolt getragen. Ich habe manche Argumente dieser gesellsehaft durchblättert und kenne nun vielleicht nicht alle, aber doch einige. Aber ich kann immer noch nicht begreifen, warum wir zur Sehrift-technik einer längst überwundenen Entwicklungsstufe zurückkehren sollen.
Soll die Faulheit gefördert werden durch Rückentwicklung des Unterscheidungsvermögens?
Soll an der Transkription zwischen dem Text eines Telex-Apparates und eines normalen Textes einiges eingespart werden?
Soll man durch die Einführung der allgemeinen Kleinschrift das bisherige Schrifttum selektieren können und einen Teil für alle Zeiten allgemein unlesbar machen, indem man es nach der Reform nicht mehr drucken läßt?
Soll einfach das Prinzip der Gleichheit auch im Schriftbild eingeführt werden, ohne Sinn, bloß aus formalen Gründen?
Oder soll einfach alles Bestehende zerschlagen werden — auf alle Fälle?
Nein, es will mir nicht gelingen, die Argumente der Kleinschreiber zu begreifen.
Ihre Agitation ist freilich nicht zu unterschätzen. Die sogenannte Konsumgesellschaft hat ja auch in kulturhistorischen Dingen eine fragwürdige Atmosphäre geschaffen. In dieser Atmosphäre glauben manche, die neue Ware müßte in jedem Fall besser sein als die alte — man will jedenfalls den Käufer in diesem Sinne überzeugen, um den Umsatz zu steigern.
Aber Neuheit an sich ist keine Qualität. Auch Hitler ist seinerzeit eine Neuheit gewesen.
Die Rückkehr zu einem stumpferen Bewußtsein, zu einem primitiveren Schriftbild mag dem sensationslüsternen Käufer im ersten Augenblick als eine Neuheit des Marktes erscheinen. In Wirklichkeit wird ihm ein alter Hut über die Ohren gezogen. Und zwar so lange, bis ihm Hören und Sehen vergeht.
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