7214830-1992_45_12.jpg
Digital In Arbeit

(K)eine „Gutenachtgeschichte"

Werbung
Werbung
Werbung

Bodo Kirchhoff, 1948 in Hamburg geboren, debütierte mit Theaterstük-ken. In den letzten Jahren veröffentlichte er mehrere Erzählungen sowie die Romane „Zwiefalten" und „In-fanta", die sich durch genaue Beschreibungen, formale Strenge und knappen Stil auszeichneten. Der in Frankfurt lebende Autor unternahm seit 1981 längere Auslandsreisen, die seine Arbeitsweise nachhaltig beeinflußt haben. In seinen Büchern tritt die Reise zunehmend als erzählerischer Hintergrund und epische Struktur auf. Dies gilt auch für seinen neuen Roman: Sieben Tage und Nächte in Tunis bilden das szenische Dekor für die Geschichte einer gescheiterten Ehe und einer unglücklichen Liebe.

Quint, ein Radiosprecher in Goethes Geburtsstadt, hat eine Affäre mit der Abiturientin Helen, die hin und wieder auf seinen Sohn Julian aufpaßt. Während er mit seiner Frau Christine „durch einen Ausdruck stiller, absoluter Hoffnungslosigkeit" verbunden ist, empfindet der 50jähri-ge für die 20jährige eine mehr als väterliche Liebe. Nachdem ihre Eltern geschieden sind, hat Helen indes das Gefühl, einen neuen Vater zu haben. Von einer Ansichtskarte Helens verführt, begibt sich Quint mit seinem vierjährigen Sohn auf eine Urlaubsreise nach Tunis. Er wohnt in einem kleinen Hotel in der Altstadt und sucht auf abenteuerliche Weise nach dem Mädchen.

Mit von der Partie sind die Hotelbesitzerin Madame Melrose, eine Frau am äußersten Rand des Jungseins, und ihr mißgebildeter Sohn. Einziger Hotelgast war bisher Doktor Branz-ger, eine Figur, die schon in früheren Texten Bodo Kirchhoffs auftauchte. Branzger ist ein Ossi, der nach der deutschen Wiedervereinigung vor dem Schock der Begegnung mit dem Westen ins Exil ging. Aus dem Lager der „Nackten" kommend, bezeichnet er sich als unfähig, in das Lager der „Bekleideten" überzuwechseln.

Zu den abendlichen Teerunden auf dem Dach gesellt sich auch Monsieur Mahbaba, angeblich Helens farbiger Liebhaber. Das Mädchen selbst bleibt unauffindbar. Quint begegnet ihr möglicherweise, als ihm bei seinen Gängen durch die Kasbah immer wieder eine Gestalt im braunen Kapuzenkleid über den Weg läuft. Helen scheint nur in ihren Aufzeichnungen, einem Heft mit dem Titel „Mein Jahr mit Quint", gegenwärtig zu sein, dessen Seiten ihm zugespielt werden.

Das hinter Tüchern verborgene Mädchen trotzte bisher sämtlichen bekannten Drogen, einschließlich der Liebe. Helen glaubt allein an die Wahrheit, an eine Welt ohne Lüge. Quint ist für sie nicht besser als ihr Vater, die Liebe bezeichnet sie als eine Sackgasse. Für Quints und Helens Unfähigkeit zu Begegnung und Bindung ist charakteristisch, daß sie sich während langer Telefongespräche eigentlich am nächsten kommen. Auch Quint scheitert an seiner dreifachen Liebe, an seinen Beziehungen zu Christine, Helen und Melrose. Am Ende bietet ihm das Verhältnis zu seinem Kind den einzigen Halt.

Die Abschnitte aus Helens Heft werden nach und nach als Einschöbe in den Roman aufgenommen. Der Mann und das Mädchen erzählen nun abwechselnd das Geschehen. Das Buch hat fortan gewissermaßen zwei Verfasser, die aus verschiedener Perspektive berichten. Unerwartetes geschieht, überraschende Wendungen treten ein: was mittlerweile für Realität genommen wurde, gibt sich wieder als das Mögliche zu erkennen. Wie die Puppen in der Puppe präsentiert der Autor schließlich Fiktion in der Fiktion.

Die Thematik des Buches ist im Ansatz in den Gutenachtgeschichten enthalten, die der Vater für das Kind erfindet. Quint erzählt Julian von einem Ungeheuer, das über die Dächer der Altstadt huscht. Der Sandmann muß kommen, um das Ungeheuer zu beschwichtigen. Die Wahrheit ist jedoch etwas anderes als der Sand, den er streut. So wie der Vater an dem Kinderbett spiegelt jeder

Sprechende und Schreibende letztlich etwas vor. Die Sprache ersetzt schließlich das Leben, die unmittelbare Wirklichkeit. Über Quint heißt es denn auch, seine Stimme sei das einzig Feste an ihm. Für den Sprecher und Schreiber ist die Sprache wahr und falsch zugleich. An dem franzö-

sischen Psychoanalytiker Jacques La-can geschult, bemüht sich Bodo Kirchhoff, die Verbindung zwischen Sprache, Traum und Wirklichkeit zu untersuchen und aufzuzeigen. „Sprache, was sonst" hat er denn auch als Motto für ein anderes Buch gewählt.

Bei alledem liest sich der „Der Sandmann" keineswegs wie eine jener unendlichen Beziehungsgeschichten, sondern wie ein spannender und raffinierter Kriminalroman. Mit einem fast detektivischen Blick für

Einzelheiten breitet der weitgereiste Autor den atmosphärischen Reichtum einer exotischen Welt aus, so daß Handlung und Hintergrund bisweilen wie ein Filmszenario wirken.

DER SANDMANN. Von Bodo Kirchhoff. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1992. 216 Seiten, öS 265,20.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung