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Boom und Elend liegen besonders nahe beieinander
Vor 30 Jahren, zu Beginn des Militärputsches in Brasilien, mußte Fernando Henrique Cardoso um sein Leben laufen, heute ist der Soziologe Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im Oktober.
Vor 30 Jahren, zu Beginn des Militärputsches in Brasilien, mußte Fernando Henrique Cardoso um sein Leben laufen, heute ist der Soziologe Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im Oktober.
In Mitteleuropa war Fernando Henrique Cardoso bis zu seinem Ministeramt in Brasilia meist nur als linker Wissenschaftler bekannt. Er gilt als einer der Väter der „De-pendenztheorie”, die die Unterentwicklung Lateinamerikas als Folge der Expansion der Industriestaaten erklärte (was die Annahme beinhaltet, Unterentwicklung könne nicht durch Entwicklungshilfe, sondern nur durch revolutionäre Akte gelöst werden).
Nach 1968 war diese These enthusiastisch von Europas revolutionären StudenterNrezipiert worden, sie hält sich - wiewohl in Lateinamerika längst obsolet - bei uns bis heute. Cardoso - nach Jahren im Exil in Chile und in Frankreich — kehrte nach Brasilien zurück und engagierte sich gegen das Militärregime, das in den späten siebziger Jahren in der Sackgasse endete. In den achtziger Jahren rückte Cardoso immer weiter nach vorne, bis ihn der Interimspräsident Itamar Franco im April 1993 als Finanzminister in die Begierung holte. Dabei profilierte sich Cardoso derart (zuletzt mit einem kühnen Stabilisierungsversuch, bei einer monatlichen Inflation von rund 40 Prozent, mit einer an den Dollar angelehnten Beferenz-währung, dem neuen „Beal”), daß er jetzt um die Präsidentschaft des riesigen Landes antritt.
Alternative im Chaos
Kurioserweise klatschen ihm gerade Brasiliens Unternehmer Beifall, denn diese fürchten noch mehr Car-dosös früheren Politikfreund, den radikalsozialistischen Gewerkschafter Luis Inacio „Lula” de Silva (übrigens ein Kreisky-Preis-Träger).
Brasilien ist immer noch ein Land krasser Widersprüche. Die Wirtschaftsdaten gehören heute zu den besten Lateinamerikas (1993 wuchs die Industrieproduktion um neun Prozent, der Handelsbilanzüberschuß betrug 13,3 Milliarden Dollar, den Börsen flössen zwölf Milliarden aus dem Ausland zu, die Devisenreserven betragen 33 Milliarden, die Schuldenfrage wurde im Bahmen des Brady-Planes soeben gelöst).
So könnte Brasilien wieder das Schlüsselland von Lateinamerika werden - gäbe es nicht elementare Übel: trotz der Erfolgsdaten hungern 32,000.000 von 155 Millionen Brasilianern; trotz der Erfolgsdaten hatte die Inflation 1993 satte 2.240 Prozent addiert. Bund eine Millionen Kinder verdienen ihr Leben auf der Straße mit Prostitution.
Brasiliens landlose Bauern verkörpern eine kritische Masse, die täglich zu explodieren droht. In den Städten wuchern Korruption, Kriminalität und Drogenringe, nicht selten unter Beteiligung von Polizisten.
Brasilien fällt dennoch nicht auseinander, weil in diesem Chaos eine Alternative heranwächst, die jenseits des Staates sich um alle Probleme kümmert. Lokale Nachbarschaften sorgen im Bahmen einer nationalen Kampagne für Hungrige und Obdachlose. Kirchliche Gruppen üben Solidarität mit den Armen. An die 5.000 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kämpfen mit ausländischer (auch österreichischer) Unterstützung für Ökologie und nachhaltige Entwicklung.
Diese ansatzweise neue „zivile Gesellschaft” agiert so erfolgreich, daß sie viele Schwächen des monströsen Staatsapparates überspielen kann, gleich, ob Cardoso oder „Lula” die Wahlen gewinnt.
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