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Digital In Arbeit

Puppenheim und Strabenkampf

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DIE PIERS LAUFEN WEIT INS MEER HINAUS, und am fernsten Zipfel sieht man, klein wie ein Schiff am Horizont, noch einen Riesenkran. Turmhohe Schiffshüllen stehen in den Docks eng beisammen. Menschen kleben an den Schiffsrümpfen wie Ameisen auf Riesenkadavern.' Die Männer tragen Helme bei der Arbeit. Sie tragen rote Bänder im Haar, wenn sie durch die Straße demonstrieren, und Blumen, wenn sie in Festnächten hinter dem Shintoschrein tanzen.

Ich war Gast beim Schweißer Watanabe. Stundenlang mit gekreuzten Beinen auf der Bodenmatte, trank ich den grünen, bitteren Tee beim Schachspiel bis in die tiefe Nacht. Der Schweißer Watanabe ist ein sehr verhaltener Herr. Fast alle Arbeiter der Schiffswerft Mitsubishi, die ich kennenlernte, und später meine Freunde aus den Fabriken in Tokio, in Yokohama und Osaka sind sanft wie die Lämmer und erzkonservativ wie die Bauern in einem entlegenen Tal von Vorarlberg.

Die Schiffswerft Mitsubishi hat von der Stadt Kobe Besitz ergriffen wie vom Hafen und von der Meeresbucht. Über den ganzen Stadtkern verstreut sind Direktionsgebäude und Zeichenbüros. Der Stadtrand besteht aus nichts anderem als aus den tausenden kleiner Häuser der Mitsubishi-Arbeiter; Holzhäuser, die wie größere Zündholzschachteln oder wie Schrebergärtenhütten aussehen und nur durch ganz enge Gassen voneinander getrennt sind. Aber so eng kann der Abstand zwischen Haus und Haus nichi sein, daß kein Platz für einen Zwergbaum wäre oder für ein Miniaturalpinum. Draußen stehen die Häuser weiter voneinander entfernt, und aus den feuchten Reisfeldern sind die Ausläufer bis an die Haustür gesickert: Meer, Docks, Verwaltungshochhäuser, Tausende v,on Miniaturhäusern, die am Stadtrand den kostbaren Boden mit Reisfeldern teilen.

IN DEN HOLZHÄUSERN sind -helle Matten ausgebreitet. Sie sind sehr weich. Man geht barfuß über sie, man sitzt und man schläft auf ihnen. Im Raum ist eine Ecke ausgebaut, in der die Heiligtümer stehen: eine Wandrolle mit einer alten Malerei, ein Blumenarrangement, das die Tochter an jedem Tag frisch legt, die Bilder der Eltern und der Großeltern und meistens ein Buddha. Wenn der Arbeiter aus den Docks nach Hause kommt, ist der Tee vorbereitet und die Frau erwartet ihn fast zeremoniell. Auf der Lacktasse auf dem Boden ist neben dem Tee das Schachspiel, die Tageszeitung und ein Buch ausgebreitet.

Nirgends sah ich im modernen Japan die alten Holzschnittidylle mehr so echt und unantastbar wie im Haus des Schweißers Watanabe und in den Häusern seiner Nachbarn, der Dreher, der Amateure und der Werkmeister von Mitsubishi. Aber die Docks von Kobe sind zu neunzig Prozent gewerkschaftlich organisiert. Die Arbeiter aus den Puppenheimen sind Mitglieder des Sohyo, des revolutionärsten Gewerkschaftsbundes im nicht kommunistischen Asien. Die Betriebsräte der Mitsubishi-Arbeiter aus Kobe waren und sind die Wortführer der Linkssozialisten und der Kommunisten im Kampf gegen den japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrag.

Ich sah den Mitsubishi-Arbeiter, wie er sein Holzhaus sorgsam vor jedem Windzug verriegelte, der aus dem Westen über Japan weht. Ich sah den Mitsubishi-Dockarbeiter im Betrieb, wie er seine Augen unter dem Stahlhelm senkte und mit fast zeremonieller Ehrerbietung grüßte, wenn ein Vorgesetzter vorbeikam. Ich sah den Mitsubishi-Arbeiter Arm in Arm mit seiner Familie und seinem Nachbarn bei Volksfesten abends hinter dem Shintoschrein hertanzen. Und ich sah den Mitsubishi-Arbeiter im selben Tanzschritt unter roten Fahnen demonstrieren. *

IN DREI GROSSEN JAPANISCHEN BETRIEBEN fragte ich die Arbeiter: „Wer sind eure Vertreter? Wo sind sie? Ich möchte mit ihnen sprechen!“ Die wenigsten konnten mir sagen, wo sie waren. „Wahrscheinlich in der Stadt, im Parteihaus oder im Parlament“, sagten sie. In den Mitsubishi-Docks in Kobe wußten alle die Namen ihrer Betriebsräte. „Sie stehen oft in den Zeitungen, wie die Namen der Filmstars; denn unsere Betriebsräte sind berühmte Männer in der Politik.“ Der Schweißer Watanabe sagte mir: „Suchen Sie die Betriebsräte im Direktionsgebäude, bei den hohen Beamten.“ Und er meinte es nicht ironisch als natürlichen Aufenthaltsort eines Gewerkschaftsführers.

Im Direktionsgebäude fand ich sie wirklich. 13 Abteilungsbetriebsräte der Mitsubishi-Werke in Kobe. Die anderen waren „politisch unterwegs“. Ein Subdirektor führte mich in jenen Flügel, in dem die Büros der Betriebsräte untergebracht sind. Wir gingen über rote Läufer, und zu beiden Seiten des Ganges standen Diener, die von der Betriebsdirektion dem Betriebsrat zur Verfügung gestellt waren. Ein kleines japanisches Stubenmädchen stand bereit, den Herren vom Betriebsrat Tee zu bringen. Klimaanlagen hingen vor allen Fenstern am Betriebsratsflügel. Und Klimaanlagen sind in japanischen Betrieben das absolute Statussymbol der „gehobenen Persönlichkeit“.

Der Diener meldete uns an, der Subdirektor machte zwei tiefe Verbeugungen und der Betriebsrat erwiderte die höfliche Begrüßung. Das Zimmer mit der Klimaanlage war meilenweit von den Werkshallen entfernt und unüberbrückbar weit außerhalb des Lebens des japni-schen Arbeiters. Der Mann hinter dem Schreibtisch war sicherlich einmal Arbeiter gewesen. Das konnte gar nicht so lange her sein. Dann wählten ihn seine Kollegen in den Betriebsrat. Die Direktion führte ihn in ihr Gebäude ein und nahm ihn in den Beamtenstatus auf. Der Herr im schwarzen Anzug, dem ich gegenübersaß, drückte auf den Knopf, ließ Tee bringen und reichte mir Zigarren.

ICH FRAGTE nach den Arbeitsbedingungen im Betrieb.

Er antwortete: Die Regierung Kishis sei arbeiterfeindlich.

Ich fragte nach der Zusammensetzung des Betriebsrates.

Er antwortete: Hier gehören alle dem Sohyo an, wir dulden keine Gelben.

Ich fragte nach der Stärke der Errungenschaften und den zukünftigen Aufgaben der-Gewerkschaften.

Er antwortete: Österreich sei ein neutrales Land und deshalb glücklich. Er wisse genau, daß es die österreichische Arbeiterschaft gewesen sei, die mit Hilfe der Sowjets die österreichische Neutralität den Imperialisten abgerungen hatte. Aber auch in Japan werde die Arbeiterschaft den Ausverkauf des Landes an die amerikanischen Imperialisten zu verhindern wissen, die Gewerkschaften aus den Werften werden immer stärker die Zügel der Politik in die Hand nehmen. Und er schien seiner Sache so „gets rulf“ sicher zu sein, daß ich nicht widersprach.

kh fragte noch, ob sich diese revolutionäre Kraft auch im Betrieb irgendwie auswirke.

Der Gewerkschaftsführer sagte: In jeder Woche werden Versammlungen gegen den Sicherheitsvertrag abgehalten.

Dieser Dialog im Direktionsgebäude ist ein Teil des Bildes der japanischen Gewerkschaften.

DAS LIEBEN DES SCHWEISSERS WATANABE

IST JAPAN. Daran ändern auch der Fernsehapparat und der Kühlschrank nichts, die er in sein Haus stellt, wenn er tüchtig und sparsam war. Er lebt in einem Puppenheim im Zwergschrebergarten. In dem Riesenbetrieb, in dem er arbeitet, ist das alte Betriebspatriarchat noch nicht ganz versickert. Die Direktion trägt viele der Fürsorgepflichten, die in Europa der Staat trägt. Dafür bringt Watanabe der Direktion etwas mehr Ehrerbietung entgegen als der Arbeiter in Europa, und er meldet es dem Vorarbeiter, wenn irgend etwas in seiner Familie vorfällt: Geburt, Hochzeit, Krankheit, Tod. Der Vorarbeiter sagt es dem Abteilungsleiter, und der Bericht geht weiter, bis es der Direktor weiß: Die Tochter des Schweißers Watanabe hat geheiratet. Und es ist sehr gut möglich, daß die Direktion veranlaßt, ein Holzhaus zu finden für die Tochter des Schweißers Watanabe und ihren Mann.

Aber wenn der Arbeiter einen Kollegen zum Betriebsrat wählt, übersiedelt der neue Funktionär aus der Werkshalle in das Direktionsgebäude, und später aus dem Puppenheim in eine kleine Beamtenwohnung. Wahrscheinlich werden sie später einander immer seltener treffen, denn ihr Leben entwickelt sich in verschiedene Richtungen.

Im Direktionsgebäude und in den Beamtensiedlungen aus Ziegel und Fertigbauwänden weht schon der Wind aus dem Westen. „Betriebsrationalisierung“ heißt es für den Direktor, „politische Karriere“ für den Betriebsrat. Er will Parteisekretär, Abgeordneter werden. Da der politische Weg nach rechts durch die Karrieristen im bürgerlichen Lager versperrt ist, bleibt nur der Weg auf den linken Flügel der japanischen Politik zu. Dort kann er im Namen jener Arbeiter seine Stimme erheben, die ihn im Betrieb wählten.

Und die Betriebsdirektionen sehen diese Entwicklung vom Betriebsrat zum selbsternannten Betriebsdelegierten in der Politik nicht ungern. Ein kommunistischer Abgeordneter im Landtag ist ihnen viel sympathischer als ein Betriebsrat, der sich um die Arbeiter kümmert, die ihn wählten.

DIE JAPANISCHEN GEWERKSCHAFTEN haben im Leben und im Puppenheim des japanischen Arbeiters noch keine Wurzeln; kaum im Betrieb. 1946 durch einen Erlaß der amerikanischen Besatzungsmacht „zur Demokratisierung des japanischen Lebens“ angeordnet, sind sie für die Arbeiter Papierstatut geblieben — und für die Funktionäre das Sprungbrett zur politischen Karriere geworden. Zwischen Watanabe und seinem Betriebsrat liegt derselbe Weg wie zwischen dem Puppenheim im Arbeiterviertel von Kobe und der Beamtenwohnung des Parteisekretärs. Und doch folgt Watanabe seinem Betriebsrat, wenn dieser zu Straßendemonstrationen oder zum Streik ruft, aus Loyalität!

Der linkssozialistische Gewerkschaftsbund Sohyo umfaßt mehr als drei Millionen Menschen. Drei Millionen Menschen, das sind nicht viel unter einer Bevölkerung von 92 Millionen. Aber auch die Unorganisierten, die aus „Pflichterfüllung“ den Betriebsrat wählen, folgen ihm, wenn er zum politischen Generalstreik aufruft. So entsteht das Bild, die erzkonservative Arbeiterschaft Japans sei kommunistisch. Die Loyalität gegenüber der „gewerkschaftlichen Obrigkeit“ geht aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie hört dort auf, wo die Existenz des Staates auf dem Spiel steht. Deshalb sind die politischen Aktionen des Sohyo so kurzatmig. Kein politischer Generalstreik dauerte länger als 24 Stunden, kann länger dauern.

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