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Stifter und seine Zeit

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ADALBERT STIFTER IM URTEIL SEINER ZEIT. Von Moriz Enzinger. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger. 440 Seiten. S 160.—.

Die graphische Darstellung der Ge-schiichte des Ansehens, das Adalbert Stifter hatte und hat, vergegenwärtigt eine durch starke Wellenbewegungen gekennzeichnete Linie. Insonderheit seine großen Romane „Nachsommer“ und „Witiko“ wurden jahrzehntelang unterbewertet, als unlesbar abgelehnt. Dies geschah sogar in „Leitfäden der deutschen Literaturgeschichte für österreichische Gymnasien“, die „mit Erlaß des k. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht... zum Unterrichtsgebrauche“ als „allgemein zulässig“ erklärt worden waren. Anderseits, die um 1920 beginnende Stifter-Renaissance kulminierte überschwenglich im zweiten Weltkrieg und in den ersten Jahren nach 1945. Scharen von Lesern fanden in Stifters Büchern Trost und Lebenshilfe in der Welt voll von Untergängen und grausamster Brutalität. Leider bewirkte die neue Hochschätzung Stifters Wiederkehr des alten Irrtums, der Dichter sei ein Mensch totalen inneren Friedens gewesen, ein sozusagen im elfenbeinernen Turm lebender Idylliker, für den es Stürme in der persönlichen Sphäre wicht gegeben habe. Deshalb entstand damals etwas, das man böswillig Stifter-Seraphik nennen könnte. Glücklicherweise erschienen einige Publikationen, die Stifters Kampf mit den Dämonen und dem ihn bedrängenden Chaos aufdeckten. Die Erforschung intimer Lebensgeheimnisse eines Dichters ist berechtigt, wenn dadurch die Interpretationen seiner Werke gefördert werden.

Moriz Enzinger hat mit dem monumentalen Buch „Adalbert Stifter im Urteil seiner Zeit“ eine Leistung erstellt, die als wertvollster neuerer Beitrag zur großen Stifter-Sekundärliteratur betrachtet werden muß. Geboten wird eine umfassende Sammlung literarischer Stellungnahmen aus der Zeit von 1840 bis 1880. Wer diese zweihundertzwanzig Belege liest oder nur durchblättert, ist reich belohnt für seine Mühe. Welche Fülle der Meinungsverschiedenheiten, der negativen und positiven Kritiken — leider auch, welche Armut an wirklich instinktsicheren Urteilen. Gewiß, nachträglich das besser würdigen zu können, was einstens oft mißverstanden wurde, ist leichter als Erzielung einer Klarsicht bei erster Konfrontation. In Hinsicht Adalbert Stifters hat unverkennbar die Tageskiritik mehr versagt als gegenüber anderen Autoren von Rang. Deprimierender denn radikale Ablehnungen (die mitunter auf negative Weise und wider Absicht einiges Verständnis für die tiefsten Intentionen des abgelehnten Werkes manifestieren können) sind liebevolle und betuliche Lobhudeleien sowie lavierende Aussagen vom Typus des „Sowohl-Als-auch“. Wie schwer es Adalbert Stifter, der an einem von bitteren Problemen erfüllten Leben trug, als — zeitweise sehr erfolgreicher und gerühmiter — Autor gehabt haben muß, bezeugen viele der in Enzingers Publikation gesammelten Beiträge. Sie ist derart betrachtet ein aufschlußreicher Beitrag zur Geschichte der Wirkung eines großen Österreichers sowie zur Historie der deutschsprachigen Lite-raturkritik, sie ist nicht minder — indirekt — Hinweis auf eine bisher kaum beachtete Erschließungsmöglichkeit der Stifters Existenz heimsuchenden Bedrängnisse. Im letzten Satz der Einleitung dieser mit enormem Fleiß zusammengetragenen Sammlung (die kenntnisreich über die Urheber der Rezensionen referiert, exakt die Orte der Besprechungen angibt, durch eine Zeittafel sowie ein Personenregister die Benutzung des Buches erleichtert) sagt Professor Enzinger allzu bescheiden, es handle sich um einen „kleinen Festbeitrag“ aus Anlaß des 28. Jänner 1968, d. h. zur hundertsten Wiederkehr jenes Tages, da Stifters Leben erlosch.

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