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Das Märchen bei Stifter

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Die Hinwendung zu Stifter in unserer jüngsten Gegenwart ist nicht nur mit dem poetischen Quietismus einer zu Tode gehetzten Zeit zu erklären. Hier zeigt sich auch, wie eine Schweizer Zeitung neulich hervorhob, die Erkenntnis, daß der anspruchslose österreichische Schulmann einer der großen Erzieher der Menschheit war, Bewahrer und Erschließer von Schätzen des christlich-abendländischen Geistesgutes, um deren Bergung aus dem Abgrund des totalitären Hasses sich heute die Besten aller Nationen bemühen.

Zu diesen zu wenig beachteten Schätzen seiner Dichtung gehört auch das märchenhafte Element, das Stifter bewußt pflegte. Das Märchenhafte ist in seinen Erzählungen und Romanen nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern gar oft ein wichtiges Moment im entscheidenden Punkte der Handlung. Gewiß war für ihn, als Nachfahren der romantischen Schule, als den ihn die zünftige Literaturgeschichte klassifiziert, die Durchdringung der Wirklichkeit mit märchenhaften Motiven künstlerische Tradition, aber auch eigenste Begabung, Herkunft und Erziehung machten ihn zum Märchenfreund und Märchenerzähler. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der

Böhmerwälder Bauernsprößling in weitem Maße von den gelehrten Dichtern der älteren und jüngeren Romantik.

Stifters Märchenpoesie hat nichts mit der dämonischen Phantastik eines E. T. A. Hofmann und der mystischen Schwärmerei eines Novalis gemein, sondern quillt frisch und unmittelbar wie ein Waldquell aus dem Born des heimatlichen Volkslebens und der volkstümlichen Uberlieferung. An der Grenze zweier Völker und zweier Kulturen aufgewachsen, hat Stifter, so wie die Ebner-Eschen-bach, auch die Berührung mit der slawischen Märchen- und Sagenwelt erfahren. Was für die Dichterin ihre alte böhmische Kinderfrau Anuschka mit ihren Geschichten und Liedern bedeutete, war für Stifter seine Großmutter, „die Märchenfrau“, Ursula Kary, die den Knaben an dunklen Winterabenden oder in bangen Gewitternächten mit der schier unerschöpflichen Fülle ihrer Erzählungen tröstete. In der Großmutter im „Heidedorf“ hat er dieser seltsamen Frau gedacht. Aber auch der Großvater, der später im „Waldbrunnen“ vorkommt, wußte viele einheimische Sagen und Märchen. Mythen aus grauer, ja heidnischer Vorzeit, die Sagen des Bayrischen und Böhmisdien Waldes, Erinnerungen aus den Tagen der Hussiten und des Dreißigjährigen Krieges, Erzählungen böhmischer Handwerksburschen, Musikanten und fahrender Leute mischten sich hier zu farbenfroher Fülle und malten in den „Studien“ und „Erzählungen“, im „Nachsommer“ und im „Wittiko“ das träumerische und doch lebensnahe Bild einer österreichischen Romantik, wie sie uns auch aus den Werken Grillparzers und Raimunds entgegentritt.

Der Zauber des Waldes weht aus der der Weltliteratur zugehörigen Erzählung „Der Hochwald“. Auf jedem Schritt begegnet uns das Märchen. Es umgibt mit seinem Geheimnis den schwarzen See mit den verwunschenen Fischen, die Steinwand mit dem versunkenen Schatz und den Dreisesselberg, von dem die drei verzauberten Könige aus alter heidnisch-slawischer Zeit über das Land blicken. Die beiden jungen Adelsdamen, die vor den Kriegswirren in das Herz des Waldes flüchten, werden zu Märchengestalten der Wildnis. Der alte Mann Gregor, der sie aufnimmt und beschützt, halb Trapper, halb Waldgeist, wird zum Symbol dieser Urwelt, in deren gewaltiger Naturmelodie sdiließlich alle Menschenstimmen verstummen. Man sah öfter i einen alten Mann durch den Wald gehen, aber kein Mensch wußte die Zeit zu sagen, i wo er ging, und die Zeit, wo er nicht : mehr ging. Schon den Sdiuljungen Stiftet : trieb ein lebhaftes Interesse, die alten Burgruinen seiner Umgebung zu durchforschen Und so hat er aus den Träumen seinei Jugend in der „Narrenburg“ ein echte: •■ . Zauber- und Märchenschloß gebaut. Dei fahrend Künstler, Heinrich von Scharnast 1 ist ein richtker Märchennrinz. da* seltsann

Kind Pia, das Töchterchen des letzten Schloßherrn, halb Mignom, halb ein Dornröschen des Böhmerwaldes. Die alte schwäbische Amme Appolonia erzählt die Märchen vom klingenden Wald und den sieben klugen Hähnen. „O du süßes, unerforsch-liches Märchen der Natur, wie habe ich dich so lange in Steinen t5nd Blumen gesucht und zuletzt in einem Menschen gefunden.“ In diesen Worten, die Heinrich zu der bräutlichen Anna spricht, liegt der Schlüssel zu der eigenen Auffassung des Dichters. Für den Poeten und Naturforscher Stifter gibt es keine „unbelebte“ Natur, für den überzeugten Katholiken keine panthe-istische Einheit von Gott und Weltall. Steine, Blumen, Tiere, die wie im alten Volksmärchen in seinen Erzählungen ihre Rolle spielen, sind Sendboten und Werkzeuge einer höheren Macht. Zwischen den bunten Steinen seines Novellenzyklus und den Handlungen und Personen besteht eine symbolische Beziehung.

„ ... Der Turmalin ist dunkel und die Geschichte, die hier erzählt wird, ist auch dunkel...“ Tiere stehen den Menschen warnend und helfend zur Seite, die redende Dohle im „Turmalin“, der treue Spitz im „Hagestolz“. In der „Mappe meines Urgroßvaters“ hält das Zirpen der Grille den jungen Arzt vom beabsichtigten Selbstmord zurück. Aus alter heimatlicher Überlieferung, die ihm sein Großvater übermittelte, schöpft Stifter bei der großartigen Schilderung der Pest im Böhmerwald, die der Darstellung Manzonis von der Pest in Mailand zur Seite steht. Als die Seuche ihren Höhepunkt erreicht hat und niemand Rettung weiß, singt ein Vogel im Gebüsch mit menschlicher Stimme einem Bauern aus Oberplan den hilfreichen Ratschlag zu:

Eßt Pimpernus und Bibinell!

Steht auf, steht auf, sterbt nicht so schnell!

Märchenblumen umranken alle Dichtungen Stifters, der „die lieben unschuldigen Pflanzen Gottes“ sein Lebtag lang als eine Wunderschöpfung bestaunte und hegte.

Aber es ist nicht die blasse blaue Blume der Romantik, die Heinrich von Ofterdingen in unwirklichen Gefilden sucht, sondern die frische, vollerblühte Rose der Heimat, die im „Wittiko“ zum Symbol der Menschenliebe wird. Rosen pflanzt im „Nachsommer“ der Freiherr von Riesach in seinen Gärten, Rosen betreut die schöne Gärtnerin Maria in den „Schwestern“, einen duftigen Kranz von Feldblumen schlingt Stifter in einer seiner anmutigsten Erzählungen um das Bild des biedermeier-lichen Wien.

Unter Haselstauden verbirgt die Großmutter im „Katzensilber“ ihre Enkel vor der' dämonischen Gewalt des Herbstgewitters. Ist doch der Haselbusch gefeit, seitdem die Gottesmutter auf ihrem Wege über das Gebirge unter seinen Zweigen Sdiutz suchte.

Märchengestalten nach der Art Hansels und Gretels sind die Kinder im „Bergkristall“, märchenhaft die Schwesternpaare Maria und Kamilla, Johanna und Klarissa, das Aschenbrödel Brigitta, die den glänzenden Bräutigam gewinnt. Auch das braune Mädchen im „Karzensilber“ gehört einem Feenreich an, dessen Bewohner den guten Menschen in der Bedrängnis zu Hilfe kommen und wie Melusina und die Saugen Fräulein die Menschenwelt wieder verlassen müssen, sobald aus ihrer eigenen Welt der Ruf an sie ergeht.

Dabei kann man annehmen, daß nicht nur die Lust am Fabulieren, die durch Umwelt und Erbe bestimmte Begabung den Dichter in dieser Richtung führte. In der moralischen Atmosphäre des Märchens, in der das Gute zum Schluß unweigerlich über das Böse siegt, sah der gläubige Christ Stifter die eigene Weltanschauung bestätigt.

Der Lehrer und Seelenbildner erkannte genau den erzieherisdien Wert des Märchens für Jugend und Volk. Und so erweitert sich in seiner Dichtung die bunte Garten- und Poetenwelt im „Nachsommer“, in der „Narrenburg“ und vielen anderen Erzählungen zur „pädagogischen Provinz“ im Sinne Goethes, in der junge Träumer und Schwärmer zu tätigem und bewußtem Menschentum geformt werden. „Westwärts liegen schweigend die unermeßlichen Wälder“, schließt der „Hochwald“. Aus diesen Wäldern ist Stifter einst donauwärts nach Wien gewandert, ihre Märchenluft hat ihn sein ganzes Leben umweht. Sie formte ihn zu dem großen Künstler und Tröster, an dessen Werk sich heute eine märchen- und gnadenlose Gegenwart aufrichtet.

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