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EINE LITERARISCHE ENTDECKUNG

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Ein jüngerer österreichischer Lyriker, Robert J. Koc, gibt seit einiger Zeit eine Serie schöner Hefte heraus, die er, picht ohne Anklang an Stefan George, „Blätter für das Wort“ nennt und in denen er eigene Gedichte und die seines Freundeskreises darbietet. Der Sinn für das Schöne wird hier erfreuend wieder offenbar. Das bisher letzte Heft möchte ich besonders anzeigen, weil es eine literarische Entdeckung bekannt gibt, die fortan in der Geschichte der Weltliteratur nicht mehr übersehen werden kann.

Nun muß eines Mannes gedacht werden, von dessen Erdenweg und vielfachem, großartigem Werk seine österreichische Heimat keine Kenntnis genommen hat. DDr. Joseph F. Rock hat Wien in jungen Jahren verlassen und ist nach Amerika und Hawaii ausgewandert, wo er als Professor für Botanik rasch zu hohem Ansehen kam. Doch hat er ebenso als Geograph, Ethnoilog, ja sogar Arzt, endlich als Sinolog Außerordentliches gewirkt, so Außerordentliches, daß ein Buch über den genialen Mann wohl notwendig wäre. Über seine vielseitige Wirksamkeit unterrichtet uns sein Neffe Robert J. Koc in der Vorrede zu dem Heft, dessen Titel lautet: Yü-Lung-Schan, Gesang am Jade-Drachenberg. Wir erfahren, daß es später hauptsächlich Tibet war, in dem Dr. Rock seiner gelehrten und ärztlichen Tätigkeit oblag, doch führten ihn Reisen, Pilgerfahrten, Karawanenzüge weithin zu mongolischen Volksstämmen, von denen er in vielen, in englischer Sprache verfaßten Büchern erstmalige Berichte erstattete. Für diese reiche, unermüdliche wissenschaftliche Arbeit empfing er mit Recht zwei Doktorate. Nur selten besuchte er Österreich; Amerika, mehr noch Asien wurde ihm zur Heimat, einer Heimat des Geistes.

Auf einem seiner Karawanenzüge hatte er Männer aus dem Na-Khi-Stamm unter seinen Begleitern, und von ihnen empfing er als erster Europäer Auskunft über dieses bisher unerforscht gebliebene Volk, das sich um das Jahr 24 nach Christi Geburt an der chinesisch-tibetanischen Grenze ansiedelte und bis zum heutigen Tag nicht aus der Welt entschwunden ist. Von Tibet scheint es geistig bestimmt worden zu sein, doch muß es ferne mythische Ursprünge gehabt haben, wofür seine Bilderschrift zeugt, die Dr. Rock als erster entziffert hat. Er schrieb mehrere Werke über diesen geheimnisvollen Stamm, die zum Teil noch nicht veröffentlicht sind.

In diesen Bilderschriften entdeckte er auch Gedichte von einzigartiger Schönheit. Es sind Hirten- und Liebesgespräche, die zum Klang einer besonderen Bambusflöte gesungen werden. Dr. Rock übersetzte sie ins Englische, und sein Neffe gibt uns in dam Heft, das wir auf das Nachdrücklichste empfehlen, eine überaus schöne deutsche Version. Der Übersetzer nennt es „Gesang am Jade-Draohenberg“', und es ist ein Zwiegesang zwischen einem Mädchen und einem Hirten. Weil in jenem Volk die strenge Sitte besteht, daß Kinder, ohne einander je gesehen zu haben, verlobt werden, bleibt eine andere Eheschließung unerlaubt. Da aber Mädchen und Knaben das Hirtenamt versehen und so einander begegnen, kann nichts leichter als eine wahre Liebe entstehen, deren Erfüllung jedoch sich nie verwirklichen darf. Ein solches Paar hat keine andere Wahl als den gemeinsamen Tod, und dies ist der Inhalt des Yu-Vu-Gesangs, der uns hier erschlossen wird. „Als mein Onkel“, erzählt der Herausgeber, „einmal ... mit seinen Begleitern die Berge hinabritt, kam ein junger Eingeborener mit schnellem Schritt und starrem ernsten Gesicht an ihnen vorüber. Hinter ihm ging ein Mädchen mit blankem Schwert und trieb ihn vor sich her. Mein Onkel fragte seine Na-Khi-Begleiter, was dies zu bedeuten hätte. Doch alle schwiegen. Das Mädchen aber trieb ihren Geliebten hinauf zu einer riesigen schwarzen Felswand, stieß ihn hinab und stürzte sich nach.“

„Im Einverständnis“, fährt der Erklärer fort, „stimmen sie, ehe sie sich den Tod geben, das Liebeslied an, den Wechselgesang des Yu-Vu, und glauben, daß sie nach dem Tod mit Wind und Wellen dahintreiben, in ewiger Liebe verbunden.“ Ein solches Liebeslied lesen wir nun, erschüttert.

Aber nicht der unabänderliche, tragische Ausgang ist es, der erschüttert, sondern das Unverschmerzbare des gewohnten, geliebten Lebens, das der Refrain in den Gesängen beider Liebenden immer neu wiederholt. Wieder wird fühlbar, wie in den Gedichten aller Zeiten und Völker der Refrain das eigentlich Lyrische hervorruft, bei Homer nicht anders als in jugoslawischen Volksliedern, im Hohen Lied wie in Negro- Spirituals. So beginnt der Gesang des Knaben:

Der Tag ist voll Gold;

Dieser Tag ist der Tag,

Dein Gewand bestickt Mit Sonne und Mond.

Wir kamen zum gleichen Grund,

Wir beide.

Über dem Dorf sind die Tannen geboren — Nichts haben wir vereinbart;

Der Tannen Nadeln Sind zur Erde gefallen —

Wir haben nicht vereinbart,

Zu kommen.

Aber man müßte das ganze Gedicht zitieren: so herrlich ist •s!

Dennoch zwingen mich diese Verse, sie hierher zu setzen:

In sechzehn Dörfern Sind die Knaben geboren,

In sechzig Dörfern Geboren die Mädchen.

Der Tag hat zwölf Stunde

Wir haben nicht vereinbart,

Spielgefährtin zu sein

Eine Todesgefährtin hab’ ich gefunden

Wir sind beisammen ...

Du bist ein einsames Glühendes Mädchen.

In deinem goldenen Herzen.

Was erwägst du?

Kommt deine Liebe Aus deinem Innerste ?

Wie das gelbe Schaff Das Getreide leert,

So muß du mir alles sagen,

Der Sitte gemäß.

Diese Verse mögen dem Leser eine Ahnung des Folgenden geben. Wunderbar antwortet das Mädchen. Sie fragt, ob es dem Jüngling denn möglich sein könne, sich von seinem Haus, seiner Familie zu trennen. „Dich allein liebe ich“, lautet seine Antwort. Und auch er bekennt sich zu seiner Herkunft, seiner Heimat, von der zu scheiden, ihm die Liebe zu der Geliebten auferlegt. Und sie bekennt dasselbe. Das ganze Gedicht ist ein Muster dafür, wie durch das Wort das schwerste Schicksal so verwandelt wird, daß die Klage tränenlos bleibt. Immer wieder kommen beide auf ihre Elternhäuser zurück, von denen ihr Todesentschluß sie abruft. Das Mädchen ist die Stärkere:

Du mein feuriger Knabe,

Du darfst nicht traurig sein im Herzen.

Fürwahr, diesen goldenen Abend,

Diesen Abend geschieht es.

In dem kleinen Dorf warst du geboren.

Mein Knabe.

Diese Leute, die uns nicht mögen,

Werden uns suchen wie eine verlorene Nadel.

Das gelbe Gift, das Giftöl,

Komm, laß uns ein wenig trinken.

Das Farnkraut ist das Lager des Ebers.

Schlafe, komm, laß uns schlafen —

Mein Knabe, was erwägst du noch?

Sag es mir, bitte.

Und der Knabe sagt es:

Vom gelben Gift, vom Giftöl

Wir müssen jetzt trinken,

Komm, zusammen laß es uns trinken.

Wir beide —

Laß durch das Land des Todes uns gehen!

Gehen müssen wir!

Laß uns dahin gehen.

Ein Liebestod, geringer nicht als der Tristans und Isoldes, ja, vielleicht einleuchtender, weil der großen Worte entbehrend. Der Übersetzer hat mir mitgeteilt, daß der Nachlaß seines Onkels reich an ähnlichen Schätzen sei. Eines der Ziele dieser Anzeige ist es, große Verlagsanstalten auf das noch ungehobene Werk Joseph F. Rocks aufmerksam zu machen.

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