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Das sanfte Gesetz

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Laßt uns einiges über die Zukunft der Literatur sagen, da gewiß viele, die berufen sind oder sich berufen glauben, daran sind, das innerlich und äußerlich Erlebte jener unglückseligen Epoche, deren Zeuge wir waren, Wort werden zu lassen. Unsinn und Sinn des jüngstvergangenen und gegenwärtigen Geschehens, das Ringen um eine neue Ordnung der Welt, in der Wert und Würde des Menschen wieder dauernd Geltung hätten — alles das wird, wie man hoffen darf, nun ja doch im epischen, im lyrischen, im dramatischen Kunstwerk der kommenden Jahre gestaltet werden.

Viele schweigen, noch ganz betäubt von der Stille, die dem Getöse und dem hektischen Krampf der letzten Jahre gefolgt ist. Aber diese Stille ist alles andere als der wahre Frieden auf Erden, und wir würden ihn nicht erreichen, wenn wir nicht imstande wären, das Sittliche im Menschen wieder aufzurichten. Hier zeichnet sich die hohe Sendung aller künftigen Kunst, nicht zuletzt der Literatur ab. Unter welchemGesetz wird sie stehen? Welchen Charakter'wird sie tragen? Welche Verpflichtung wird der Dichter, wird der Schriftsteller künftig auf sich nehmen müssen, damit seine Kunst ein Künden werde und das Menschenherz aufrüttle?

In den Vereinigten Staaten wurde vor längerer Zeit zum erstenmal die Erzählung „Bergkristall“ von Adalbert S t i it er veröffentlicht. Fachkreise wiesen darauf hin, welch ein großer Buchertclg das Werk sei. Adalbert Stifter auf einer amerikanischen Bestsellerliste? Diese vor fast hundert Jahren geschriebene Kindergeschichte aus dem Böhmerwald volle Herzenseinfalt und innigen Naturgefühls als Modelektüre? Gewiß nicht! ,Was nun mögen die amerikanischen Leser an dieser Erzählung mit dem so unscheinbaren Titel gefunden haben? Eben das Innige, das Sanfte, das ewi| Friedliche nach dem rasenden Kriegslärm, inmitten des Siegestrubels und der „Schlacht“ um den Frieden, eben das schlicht Menschliche nach den Jahren des Unmenschlichen. Die Menschen sehnen sich wie nie zuvor nach dem wahren Frieden. Aber die Taube mit dem Ölzweig kann sich nirgend ruhig niederlassen, denn noch gärt es überall chaotisch in der Nachkriegswelt. Da mag wohl mancher zu Stifters Erzählung wie nach einem Trostbüchlein gegriffen haben.

Die klassische Kunst des Österreichers Adalbert Stifter stehr im Zeichen des Maßes, der gebändigten Leidenschaft, des wahrhaft Humanen als dem Dauernden gegenüber dem Maßlosen, dem Gewalttätigen und Menschenzerstörenden. Stifter wußte um das Zeitgebundene und Vergängliche aller großen Leidenschaften, Erfindungen und Umwälzungen in der Menschen-geschicl^te. Ihm und seiner Kunst ging es um ein anderes — um das Ewige. „Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. Das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das will, daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem andern bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle anderen Menschen ist.“ (Vorrede zu den „Buntdn Steinen.“) Für Stifter ist dieses Gesetz der Gerechtigkeit und Sittlichkeit das „einzige allgemeine, das einzige erhaltende und nie endende.“ Wie das Naturgesetz das welterhaltende, ist jenes das menschenerhaltende. „Sanft“ nannte Stifter dieses Gesetz, weil es wie alle allgemeinen Gesetze still und unaufhörlich, hauptsächlich in den alltäglichen, immer wiederkehrenden Handlungen der Menschen wirke. Mit wärmender Kraft strahlt diese Weltanschauung Stifters in seine Kunst hinein. Denn er ist überzeugt: „Wenn etwas Edles und Gutes in mir ist, , so wird es von selber in meinen Schriften liegen.“ Es liegt in seinen Schriften! Und so erklärt sich auch der Bucherfolg seiner Weihnachtserzählung „Bergkristall“ in Amerika. In der sehr beachtlichen amerikanischen Literatur vollzieht sich seit geraumer Zeit eine bedeutungsvolle Wandlung vom Skeptizismus, ja Zynismus zur Gläubigkeit. Wenn der zu früh verstorbene ThomasWolfe, 'die stärkste dichterische Kraft der neuen amerikanischen Literatur, in seinem Nachlaßwerk „Es führt kein Weg zurück“ die gläubigen Worte findet: „Lasse die Welt, die du kennst, um höhere Einsicht, lasse das Leben, das du hast, für ein größeres Leben, lasse die Freunde, die du hast, für tiefere Liebe; finde ein Land, liebreicher al die Heimat, viel weiter als die Erde — darauf die Pfeiler dieser Erde gegründet sind —, darauf das Weltgewissen hört und zu dem es die Seele hinzieht“, dann erkennen wir darin Stifters Land des^einfach Hohen und Himmlischen“ wieder, und jene Pfeiler, auf denen die Erde gegründet ist, es sind die beiden Pfeiler, auf denen das menschen-erhaltende, das sanfte Gesetz ruht: Gerechtigkeit und Sittlichkeit. Welch schönes Schauspiel, diese Brücke des Geistes, die sich von der maßvollen harmonischen Welt Stifters zu der maßlosen verwirrenden Füllt der dichterischen Schau Thomas Wolfes wölbt, jener in-der Geborgenheit des nach*-“' romantischen Biedermeiers, dieser in der existentiellen Gefährdung zwisdien den beiden Weltkriegen schaffend!

Und damit kehren wir zurück zu unseren anfänglichen Fragen über die Zukunft der Literatur. Es gilt, das solange verbotene oder verborgene Bild des wahren Menschen wiedererstehen zu lassen, soll es nicht für immer entschwinden. Es gilt, mit dichterischer Kraft in der Epik, in der Lyrik, im Drama (auf der Bühne und im Film) den Glauben an das Menschliche, an den endlichen Sieg des Menschenherzens zu beschwören, die Macht des Sanften, des Sittlichen, des Geistes triumphieren zu lassen über alle Gewalt und den entfesselten Dämon technisierter Natur. Daraus ergibt sich die ungemein ernste Verpflichtung und Verantwortung der Schriftsteller in unserer Zeit. Es ist schon so, daß ein nicht geringer Teil der Schuld an den Geschehnissen von 1914 bis 1945 Dichtern und Schriftstellern zufällt. Wo sie hätten warnen und beschwören, Weg und Ziel zeigen müssen, da gefielen sie sich in ihrer virtuosen Kunst, die Wirklichkeit zu schildern oder ästhetische Stimmungen hervorzuzaubern; da trieben sie Seelendeutung, experimentierten mit der Form, kramten ein erstaunliches Wissen aus. Diese Bücher und Dramen waren erfüllt vom Lärm der Welt, waren kraß, packend, nervenspannend oder aus Berechnung das Gegenteil. Aber dahinter stand meistnurderKönner, nicht der K ü n d e r, die Sucht nach Wirkung, nicht Demut und Glaube. Und so versagte schließlich die Zeit, weil die Dichter versagt hatten. Bis die Verwirrung ihren Höhepunkt erreichte: die einen gingen außer Land und trugen schwer, manche bis zur Verzweiflung, an der Trauer, die sie in der Fremde überkam; die zweiten schwiegen aus Scham und die dritten — die waren mit Blindheit geschlagen, taten begeistert mit oder liefen sich mißbrauchen und wurden schuldig. Hier harrt der Dichtkunst eine Aufgabe, wie sie noch keine Generation zu vollbringen hatte: die Wiedergeburt der Sprache, damit sie auferstehe aus der Ent-geistigung, aus der Entseelung. Insoweit es die Dichter vermögen werden, den Worten eine neue Seele einzuhauchen, wird deren ursprünglidier tiefer Gehalt wiedererstehen. Unsere Sprache muß erst wieder fähig und reif gemacht werden, mitzuwirken an der Wiedergeburt des Menschen.

Alles das: die Arbeit am Worte um des neuen Geistes willen, die Verpflichtung des Dichters, angesichts des namenlosen (über-standenen oder noch zu gewärtigenden) Leides der Menschen, nur zu schaffen, was den Menschen fördert, was ihm hilft, sich inmitten der unheimlidien Bedrohung zu behaupten, was seinen Glauben, nicht allein zu stehen, was seinen Mut zu einem gewiß nicht leichten, aber doch wieder menschenwürdigen Dasein stärkt, das alles wird den Charakter der künftigen Literatur bestimmen müssen.

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