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Ein Wilddieb namens William

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Washington Irving (1783 bis 1859) war der erste amerikanische Autor, der auch in Europa Berühmtheit erlangte. Schon längst gehört er zu den Klassikern der Weltliteratur. Er verkörperte den Typus des gebildeten Gentleman aus dem 19. Jahrhundert. Viele Jahre seines Lebens verbrachte er als Diplomat in England. An einem Frühlingstag unternahm er eine „Pilgerfahrt” nach Stratford-on- Avon. Dabei wurden auch Erinnerungen an eine eher legendäre Episode aus der Jugend Shakespeares wach.

Als ich an den Gedenkstätten dem Genie Shakespeares gehuldigt hatte, wollte ich auch noch Charlecot sehen, den alten Familienbesitz der Lucys, und durch den Park wandern, wo der jugendlich unbesonnene Übeltäter William gemeinsam mit einigen lockeren Gesellen aus Stratford gewildert hatte. Bei diesem tolldreisten Streifzug, so wird uns be-richtet, wurde er ertappt und zu der Behausung des Jagdhüters geschleppt, wo er die ganze Nacht in jammervoller Haft zubringen mußte. Als man ihn dem Grundherren, Sir Thomas Lucy, vorführte, hatte er wohl eine arg verletzende und demütigende Behandlung zu erdulden, denn diese Schmach ging ihm nicht aus dem Sinn, ja er verfaßte sogar ein Spottgedicht und schlug es heimlich am Parktor von Charlecot an. Darin verhöhnte er Sir Thomas und nannte ihn gar einen Esel.

Von diesem Pamphlet ist nur die folgende Strophe erhalten geblieben

„Mag im Staatsrat er sitzen, hält er dräuend Gericht,

Thomas Lucy ist dennoch ein kläglicher Wicht.

Wenn Lucy so dumm ist, wie mancher es rügt, dann bleibt er auch dumm, was immer sich fügt.

Er dünkt sich gar groß,

Ist ein Esel doch bloß.

Und sucht sich das Langohr als trauten Genoss’.

Wenn Lucy so dumm ist, wie mancher es rügt,

Dann singt von Lucy dem Esel, wie immer sich’s fügt!”

Dieser schändliche Angriff auf seine Würde ergrimmte den Ritter dermaßen, daß er sich an einen Rechtsgelehrten wandte, um die Gesetze in ihrer ganzen Strenge gegen den verseschmiedenden Wilddieb in Anwendung zu bringen. Shakespeare wußte wohl, daß er der vereinten Macht eines Edlen der Grafschaft und einer Gerichtsperson kaum standhalten konnte, daher säumte er nicht. Alsbald ließ er die lieblichen Ufer des Avon und sein väterliches Gewerbe — die Wollkämmerei — hinter sich und wan- derte nach London. Trieb sich dort beim Theater herum, wurde Schauspieler und begann schließlich selbst für die Bühne zu schreiben. Und so verlor durch das Vorgehen des Sir Thomas Lucy der kleine Ort Stratford einen bedeutungslosen Wollkämmer, und der Welt wurde ein unsterblicher Dichter geschenkt!

Das alte Herrenhaus von Charlecot samt dem Park, der es umgibt, liegt nur etwa drei Meilen von Stratford entfernt. Deshalb entschloß ich mich zu einer Fußwanderung. Der plötzliche Wetterumschwung hatte überraschende Wirkungen gezeitigt. Frische Färbung belebte den Grund, Bäume und Büsche mit ihren aufbrechenden Knospen verhießen neues Wachsen und Blühen. Von den Wiesen klang das leise Blöken junger Lämmer. Sperlinge zwitscherten in versteckten Dachwinkeln. Das Rotkehlchen ließ seinen klagenden winterlichen Gesang mit einem hellen Jubelton ausklingen, und die Lerche stieg zu den schimmernden, flockigen Wolken empor.

Wahrhaftig, das ganze Land weit und breit ist ein Reich der Poesie! Alles ist vom Geist Shakespeares erfüllt. In jedem alten Haus am Weg erahnte ich eine Heimstätte seiner Kindheit, wo er ländliches Leben und ländliche Sitten genau kennengelernt und jene Sagen und wilden Schauermären vernommen hatte, die er später wie Zauberkraft in seine Werke verwob.

Auf einer Strecke meines Weges hatte ich den Avon in Sicht, der in mannigfachen Windungen seinen Lauf durch ein breites fruchtbares Tal nimmt. Manchmal glitzert er zwischen Weiden, die seine Ufer säumen, verschwindet hinter Gebüsch und grünenden Matten, dann tritt er wieder voll ins Blickfeld und legt einen Bogen von Azur um einen Wiesenhang.

Nachdem ich ungefähr drei Meilen weit der Landstraße gefolgt war, schwenkte ich ab, ging über den Feldweg, der zu einem Privattor des Parks führte und befand mich nun in einer Allee von prachtvollen Eichen und Ulmen. Diese gewaltigen alten Alleen wirken wie gotische Architektur, nicht allein durch eine wahrnehmbare Ähnlichkeit in den Formen. sondern deshalb, weil sie die Merkmale langen Bestandes tragen und weil wir wissen, daß ihr Ursprung in einer Zeit liegt, mit der wir die Vorstellungen von Pracht und Größe verbinden. Auch eignet ihnen die angestammte Würde und stolze Freizügigkeit eines alten Geschlechtes. Ein trefflicher Freund bemerkte einmal zu mir, als er auf die pompösen Paläste neuerer Zeiten zu sprechen kam, daß „Geld wohl vieles aus Stein und Mörtel zu schaffen vermag, aber Gott sei Dank kann man nicht nach Belieben rasch eine Eichenallee wachsen lassen”.

Im großen Herrenhaus von Charlecot herrschten Stille und Einsamkeit. In den Räumen war das meiste verändert, der gewandelten Lebensweise angepaßt. Aber es gab eine schöne alte Treppe aus Eichenholz. Und die geräumige Halle, der vornehmste Raum in einem altertümlichen Landsitz, hatte wohl im großen und ganzen noch immer dasselbe Aussehen wie in den Tagen Shakespeares. Eine hohe, gewölbte Decke, eine Galerie, auf der eine Orgel stand, die Waffen und Jagdtrophäen hatten Familienbildern Platz gemacht. Ein riesiger Kamin für ein großes Holzfeuer nach altem Brauch. Ein gewaltiges gotisches Erkerfenster mit dem Wappen des Geschlechtes der Lucys in farbigem Glas.

Zu meinem Bedauern mußte ich feststellen, daß die ursprüngliche Einrichtung der Halle verschwunden war. Insgeheim hatte ich gehofft, den stattlichen geschnitzten Lehnstuhl zu sehen, in dem einstmals der Gutsherr das Zepter über seine ländlichen Besitztümer schwang und auf dem, so darf man wohl annehmen, Sir Thomas in erschreckender Machtvollkommenheit thronte, als ihm dieser Galgenvogel Shakespeare vorgeführt wurde. Da ich es liebe, mir zu meinem eigenen Vergnügen Bilder in allen Einzelheiten mit möglichst viel Leuchtkraft auszumalen, ergötzte ich mich im Stillen an dem Gedanken, daß eben diese Halle der Schauplatz des Verhörs am Morgen nach Williams unrühmlicher Gefangennahme gewesen sei.

Ich sah im Geiste diesen ländlichen Machthaber, Sir Thomas, umgeben von Butler, Pagen und Dienern, während der unselige Sünder hereingeführt wurde, hoffnungslos und niedergeschlagen, von Wildhütern, Jägern und Hundefüfarem bewacht und gefolgt von einem bunten Häuf derber Spaßvögel. Ich sah die hellen Gesichter neugieriger Mägde durch halbgeöffnete Türen spähen, indes sich auf der Galerie die lieblichen Töchter des Ritters mit zierlicher Gebärde vorneigten und den jugendlichen Gefangenen mit dem Ausdruck jenes Mitleids betrachteten, „das der Weiblichkeit dmnewohnt”, wie ein Schriftsteller so schön sagte.

Wer mochte voraussehen, daß dieser arme Schelm, der so sehr vor der vergänglichen Gewalt eines Landjunkers zitterte und mit dem grobe Bauern ihren Spott trieben, bald Prinzen entzücken würde, zu allen Zeiten und in allen Zungen als ein Bildner des menschlichen Geistes gerühmt werden sollte und auch seinen Bedränger unsterblich machen würde — durch ein Spottgedicht und durch die komische Gestalt des Richters Schal in „König Heinrich IV.”. Denn Schal trägt unverkennbar die Wesenszüge des Sir Thomas!

Auf dem Heimweg mußte ich immerzu über die einzigartige Macht des Dichters nachdenken. Er vermag durch die wundersame Kraft seines Geistes das Antlitz der Natur zu verklären, den Orten und Dingen einen Reiz und ein Gepräge zu verleihen, die ihnen sonst nicht eigen sind. Jener allein ist der wahre Zauberer, dessen Magie nicht auf die Sinne wirkt, sondern auf die Vorstellungswelt und das Herz. Im beglückenden Bann Shakespeares hatte ich die Landschaft durch das Zauberglas der Poesie erschaut. Ich war von erdachten Gestalten umgeben gewesen, von bloßen luftigen Gebilden der Phantasie, die durch dichterisches Ingenium lebensvolle Form gewonnen hatten und für mich allein Reiz einer höheren Wirklichkeit besaßen.

Als ich über die Avonbrücke schritt, blieb ich stehen, um die ferne Kirche, die des Dichters Grab birgt, noch einmal zu betrachten. Ein unbesonnener junger Mann, ein hart gezüchtigter Wilddieb namens William, war von dort in eine ungewisse Welt gewandert. Er konnte nicht ahnen, daß jener Kirchturm, der sich nun im Dämmer verlor, einst zum Wahrzeichen werden sollte, hochragend inmitten der sanften Landschaft, um den Sendboten aller Stämme und Völker der Erde den Weg zu seinem Grab zu weisen …

Aus dem Englischen übersetzt von Gunther Martin

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