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Spuk um Mitternacht

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Zweimal schon wurde in diesen Spalten an die Menschlichkeit appe- liert und eindringlich gefordert, die im Spandauer Gefängnis inhaftierten einstigen Funktionäre des Nationalsozialistischen Regimes, Rudolf Hess, Baldur von Schirach und Albert Speer, nach jahrzehntelanger Haft doch endlich freizulassen; nicht zuletzt deswegen, weil sie im Nürnberger Prozeß sich nicht eben schlecht gehalten hatten und Speer sogar vielleicht einer der wenigen war, dessen Schuldbekenntnis durchaus aufrichtig zu nehmen gewesen war.

Kürzlich war es nun soweit. Wenigstens die letzten beiden, Schirach und Speer (gerade der am wenigsten geistig Zurechnungsfähige, Hess, wird auf Betreiben einer Besatzungsmacht unverständlicherweise weiter festgehalten), wurden nach genau zwanzigjähriger Haft um Mitternacht zum Samstag der vergangenen Woche am dem bisher sehr kostspielig bewachten Militärgefängnis von Spandau entlassen. Es war als selbstverständlich anzunehmen, daß dieser Vorgang diskret und für die Öffentlichkeit möglichst unbemerkt vor sich gehen werde, was wahrhaftig von den Alliierten und den deutschen Behörden nicht schwer zu arrangieren gewesen wäre.

Es kam aber anders. Scheinwerfer beleuchteten das makabre Spektakel, die Kurbeln der Fernseh- und Wochenschaumänner surrten, und unter den 2000 Schaulustigen wurden wie einst im Mai zahlreiche Heilrufe und Sprechchöre, nach einer Meldung sogar die „alten Lieder", wieder laut, in die sich schüchtern einige Pfiffe mischten.

Ein stattlicher Polizeikonvoi geleitete die beiden eleganten Mercedes- Limousinen sicher wie bei einem Potentatenbesuch durch die Menge, es gab sogar Pressekonferenzen und Erklärungen der Entlassenen in Deutsch, Englisch und Französisch — und dann war der mitternächtliche Spuk zu Ende.

Noch nicht ganz. Den Baldur von Schirach entführte ein Sonderflugzeug in die schriftstellerische Einsamkeit, wo er — man munkelt um einige Millionen — im Auftrag einer Illustrierten seine Memoiren diktieren wird.

Was wird er uns darin zu sagen haben?

Was die beiden Entlassenen wohl dabei empfunden haben mögen? Es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn sie sich „ganz wie zu Hause“ und wieder in ihrer Zeit gefühlt hätten.

Ein Blumenstrauß, den der sozialistische regierende Bürgermeister von Berlin, Willi Brandt, schon vorher der Tochter Speers hatte übermitteln lassen, unterstrich noch den festlichen Charakter der imposanten Veranstaltung.

Die Demonstranten aber nannte die Berliner Polizei „einige Betrunkene“ und „Krakehler“. Nationalsozialisten von gestern und heute gibt es ja laut offiziellen Erklärungen in Deutschland — und Österreich — nicht...

Hier aber wandeln sich die von uns geforderte Menschlichkeit, zu der wir nach wie vor stehen, in — mindestens — behördliche Ungeschicktheit und Gerechtigkeit in nationale Würdelosigkeit. Wir müssen uns daher von der Agentur einer Besatzungmacht, die vielleicht alle vier an dem Vorfall nicht ganz schuldlos sind, sagen lassen:

„Die unselige jüngste deutsche Vergangenheit feierte am Wochenende in der alten Reichshauptstadt eine beinahe glanzvolle Wiederauferstehung. Unter spektakulären Umständen verabschiedeten die Berliner Behörden Adolf Hitlers Reichsjugendführer Baldur von Schiradi und den einstigen NS-Rüstungs- minister Albert Speer.“

Und hier verstummen wir mit unserem Ruf nach Menschlichkeit. Und schämen uns.

Das schließt aber nicht aus, daß wir uns einem neuerlichen Appell der Angehörigen von Hess an die Weltöffentlichkeit, darunter an Papst Paul VI., den über Siebzigjährigen freizulassen, ohne Vorbehalt anschließen. Aber bitte schön: ohne Blumen und Gesänge.

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