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Der Bienenbahnhof

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Nach langer, schwerer Krankheit ist der Humorist Michail Sostschenko in Leningrad im 63. Lebensjahr gestorben. Sostschenko, der bedeutendste russische Satiriker der letzten Jahrzehnte, hatte ei in der Sowjetunion nicht leicht. Seine Satiren gegen die sowjetische Bürokratie und die Bevormundung der „Sowjetmenschen“ (in Deutschland erschienen einige von ihnen in den Sammelbänden „Schlaf schneller, Genosse“ und „Radfahren verboten“) wurden mit der Verschärfung des Stalin-Regimes immer mehr unterdrückt. Am 21. August 1946 wurde er von dem höchsten stalinistischen Kulturfunktionär, Andrej Schdanow, mit folgenden Ausdrücken bedacht: „Spießer, im Schmutz des Lebens wühlend, Schundliterat, unsowjetischer Schmutzfink, niedriger Verleumder, durch und durch faul, leer, ordinär, ideologisch indifferent, obszön, schmutzig ...“ Dem großen Sostschenko müssen diese Schimpfnamen wie ebenso viele Ehrenbezeugungen erschienen sein. Nach Stalins Tod durfte er noch einige Kurzgeschichten veröffentlichen.

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Nach langer, schwerer Krankheit ist der Humorist Michail Sostschenko in Leningrad im 63. Lebensjahr gestorben. Sostschenko, der bedeutendste russische Satiriker der letzten Jahrzehnte, hatte ei in der Sowjetunion nicht leicht. Seine Satiren gegen die sowjetische Bürokratie und die Bevormundung der „Sowjetmenschen“ (in Deutschland erschienen einige von ihnen in den Sammelbänden „Schlaf schneller, Genosse“ und „Radfahren verboten“) wurden mit der Verschärfung des Stalin-Regimes immer mehr unterdrückt. Am 21. August 1946 wurde er von dem höchsten stalinistischen Kulturfunktionär, Andrej Schdanow, mit folgenden Ausdrücken bedacht: „Spießer, im Schmutz des Lebens wühlend, Schundliterat, unsowjetischer Schmutzfink, niedriger Verleumder, durch und durch faul, leer, ordinär, ideologisch indifferent, obszön, schmutzig ...“ Dem großen Sostschenko müssen diese Schimpfnamen wie ebenso viele Ehrenbezeugungen erschienen sein. Nach Stalins Tod durfte er noch einige Kurzgeschichten veröffentlichen.

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Ein Rotarmist besuchte einen Kolchos. Als Gastgeschenk brachte er seinen Verwandten ein Gläschen Blütenhonig mit. Dieser Honig fand so viel Anklang, daß die Kolchosbauern beschlossen, eine Bienenzucht anzulegen. Aber in der Umgebung befaßte sich niemand mit Bienenzucht.

Unter den Kolchosbauern war ein gewisser Iwan Panfilytsch, ein wundervoller Mensch, nicht mehr sehr jung, so um die 72 Jahre. Der hatte sich in seinen jungen Jahren mit Bienenzucht befaßt. Dieser also sagte: „Um den Tee schon in diesem Jahr mit Honig trinken zu können, müssen wir irgendwohin fahren, wo Bienenzucht getrieben wird. Und dort müssen wir dann kaufen, was wir uns wünschen.“ . I

Die Kolchosbauern sagen: „Unser Kolchos ist Millionär. Er braucht keine Ausgaben zu fürchten. Kaufen wir einfach eine auf vollen Touren laufende Bienenzucht. Wenn wir uns die Bienen aus dem Wald holen, können es schlechte Bienen sein. Vielleicht werden sie irgend so einen scheußlichen Honig fabrizieren, so einen Lindenhonig oder was. Aber wir wollen doch Blütenhonig!“

Also gab man Iwan Panfilytsch Geld und schickte ihn auf die Reise nach der Stadt Tambow.

Er kommt nach Tambow. Dort sagt man ihm: „Sie haben richtig gehandelt, indem Sie zu uns kamen. Bei uns sind drei Dörfer nach dem Fernen Osten umgesiedelt. Ihre Bienenzucht ist aber hiergeblieben. Diese Bienenzucht können wir Ihnen fast umsonst abgeben. Aber wie wollen Sie die Bienen befördern — das ist die große Frage?“

Panfilytsch sagt: „Ich werde sie schon irgendwie heimbringen. Ich kenne die Bienen. Ich bin mein ganzes Leben lang mit ihnen umgegangen.“ Und so brachte Panfilytsch seine sechzehn Bienenstöcke mit zwei Fuhren an die Bahn.

Auf der Station gelang es ihm, eine offene Plattform zu bekommen. Stellte seine Bienenstöcke auf die Plattform und bedeckte sie mit einer Plane. Bald setzte sich der Güterzug in Bewegung. Und unsere Plattform rollte.

Panfilytsch stand feierlich auf seiner Plattform und plauderte mit den Bienen: „Nitschewo, Kinderchen...“, sagte er ihnen, „wir werden schon heimkommen. Jetzt müßt ihr schon ein bißchen im Dunkeln bleiben, dann aber werde ich euch wieder zu den Blumen fliegen lassen.“

Der Zug fuhr schon drei Tage lang, hielt auf allen Bahnhöfen, und keiner wußte, wann er am Ziel sein würde. Auf der Station „Ploja“ verließ Panfilytsch seine Plattform und wandte sich an den Stationsvorsteher. Er fragte:

„Sagen Sie, Verehrtester, wie lange werden wir wohl auf Ihrer Station stehenbleiben?“

Der Stationsvorsteher antwortete: „Ich kann das wirklich nicht sagen. Vielleicht sogar bis zum Abend.“

Panfilytsch sagt: „Wenn wir wirklich bis zum

Abend hierbleiben, dann werde ich die Plane abnehmen und die Bienen auf ihre Felder fliegen lassen. Sie sind von der Reise so erschöpft.“

Der Vorsteher sagte: „Wie Sie wollen! Was gehen mich Ihre geflügelten Passagiere an? Ich habe ohnedies Arbeit genug.“

Panfilytsch kehrt auf seine Plattform zurück. Das Wetterchen war herrlich. Blauer Himmel. Strahlender Junisonnenschein. Ringsum Felder. Blumen blühen. Panfilytsch nahm also die Plane von den Körben. Und sogleich erhob sich eine ganze Armee von Bienen in die Lüfte und flog in die Felder und Wälder.

Da trat der Vorsteher wieder auf die Station heraus und begann, dem Maschinisten das Zeichen zur Abfahrt zu geben.

Panfilytsch entsetzte sich förmlich, als er das sah. Aufgeregt sagte er zum Stationsvorsteher:

„Verehrter, lassen Sie den Zug noch nicht abfahren. Alle meine Bienen schwärmen irgendwo herum.“

Der Stationsvorsteher sagt: „Pfeifen Sie ihnen mal, daß sie schneller zurückkommen. Mehr als drei Minuten kann ich den Zug nicht aufhalten.“ Panfilytsch sagt: „Ich flehe Sie an, halten Sie den Zug bis Sonnenuntergang zurück. Bei Sonnenuntergang kehren die Bienen in ihre Stöcke zurück Oder schlimmstenfalls hängen Sie meine Plattform ab. Ich kann ohne die Bienen nicht fahren. Hier sind noch eintausend Bienen, 40.000 fliegen in den Feldern umher.“

Der Stationsvorsteher sagt: „Wir sind hier kein Bienenkurort, sondern eine Eisenbahn. Soll ich vielleicht wegen solcher Kleinigkeiten meinen Zug zurückhalten? Machen Sie sich nicht lächerlich!“ Und der Stationsvorsteher gibt endgültig das Zeichen zur Abfahrt. Und der Zug setzt sich in Bewegung. Panfilytsch, blaß wie der Tod, steht auf seiner Plattform. Fuchtelt mit den Händen. Blickt wild um sich. Und zittert vor Gram.

Aber der Zug fährt, und mit ihm Panfilytsch. Nun, ein kleiner Teil der Bienen springt doch noch auf den fahrenden Zug. Der größere Teil aber schwirrt noch über den Feldern und den Wiesen.

Der Stationsvorsteher geht in sein Zimmer zurück. Er schreibt irgendwas, trinkt dazu Tee mit Zitrone. Und hört plötzlich, daß irgendein undefinierbarer Lärm sich auf der Station erhebt. Und sieht, daß unter den wartenden Passagieren eine wilde Unruhe, Lauferei und Aufregung herrscht. Er fragt: „Was geht hier vor?“

Ihm wird geantwortet: „Drei Passagiere sind von Bienen gestochen worden. Jetzt stürzen sich die Bienen auch auf die anderen. Es sind so viele, daß sie den Himmel verdunkeln.“

Und der Vorsteher sieht, daß eine ganze Wolke von Bienen über seiner Station kreist.

Natürlich, sie suchen ihre Plattform. Aber die Plattform ist weg Einfach fortgefahren. Also stürzen sie sich auf die Menschen, wohin's “ trifft. Kaum tritt der Vorsteher vom Fenster zurück, um auf den Bahnsteig hinauszugehen, als schon eine Anzahl wütender Bienen durch das Fenster hereinfliegt.

Der Vorsteher packt ein Handtuch, um die Bienen damit aus dem Zimmer zu jagen.

Doch das war anscheinend sein Verderben. Zwei Bienen stachen ihn in den Hals. Eine dritte ins Ohr. Eine vierte in die Stirn.

Der Vorsteher wickelte sich in sein Handtuch und fiel stöhnend auf seinen Diwan.

Da kommt sein Gehilfe gerannt und sagt: -„Die Bienen haben auch den diensttuenden Telegraphisten gestochen — in die Wange. Er weigert sich, weiterzuarbeiten.

Der Vorsteher liegt auf seinem Sofa und sagt: „Ach, was ist da zu machen?“

Da kommt auch schon ein anderer Beamter gelaufen und sagt: „Die Kassierin, das heißt also Ihre Frau, Klawdia Iwanowa, ist 'soeben von einer Biene in die Nase gestochen worden. Ihr Aeußeres ist jetzt endgültig verunstaltet.“

Der Vorsteher stöhnt noch mehr und sagt: „Man soll sofort die Plattform mit diesem verrückten Bienenzüchter zurückbeordern!“ Er sprang hoch und telephonierte der nächsten Station.

Alles atmete erleichtert auf, als der Waggon in Sicht kam. Panfilytsch stand noch . immer. darauf.

Panfilytsch befahl, die Plattform genau auf den Platz zu fahren, auf dem sie vorher gestanden hatte. Die Bienen sahen die Plattform und flogen auf sie zu. Es waren ihrer so viele, und sie wollten mit solcher Eile ihre bisherigen Plätze wieder einnehmen, daß ein großes Gedränge entstand.

Panfilytsch stand auf der Plattform, beruhigte die Bienen: „Ruhig, Kinderchen, eilt nicht! Wir haben Zeit. Nehmt eure Plätze entsprechend euren Platzkarten ein!“

Nach zehn Minuten hatte sich alles beruhigt.

Der Vorsteher lag nach wie vor auf dem Diwan, in ein Handtuch gehüllt. Er ächzte und stöhnte. Stöhnte nur noch lauter, als Panfilytsch das Zimmer betrat.

Panfilysch sagte: „Ich bedaure es sehr, Verehrter, daß Sie von meinen Bienen gestochen wurden. Sie sind aber selbst schuld. Man darf den Dingen gegenüber nicht so gleichgültig sein, ob es sich um große oder um kleine Dinge handelt.“

Der Vorsteher stöhnte noch mehr, Panfilytsch fuhr aber unbeirrt fort: „Bienen und andere Tiere vertragen absolut keine Bürokratie und keine Gleichgültigkeit ihrem Schicksal gegenüber. Sie haben sie aber behandelt, wie Sie wahrscheinlich auch die Menschen behandeln — und jetzt haben Sie die Strafe.“

Der Stationsvorsteher nickte nur schwach und flüsterte leise: „Haben Sie auch alle ihre Bienen beisammen? Sehen Sie zu, daß Sie keine hierlassen!“

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