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Der Unbekannte

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Hundert Züge fahren täglich an meinem Häuschen vorüber; kleine Leute und gewichtige Persönlichkeiten. Sie kennen mich nicht, ich kenne sie auch nicht. Ein Donnern und Klirren, ein wilder Wirbel, die Schlußlichter verschwinden in der Ferne, und um mich ist wieder Stille.

Die Menschen in den Zügen würden mich wohl erst kennenlernen, wenn ich eines Tages meine Pflicht versäumen würde, wenn hier bei Stellwerk 17 ein Unglück geschähe.

Hier stehe ich also auf meinem einsamen Posten, ein kleiner Kämpfer in einer großen Armee, unbekannt und unbeachtet. Die .kleinen Leute und die großen Persönlichkeiten, die Tag für Tag an mir vorbeiflirren, undeutlichen Schatten gleich, denken wohl kaum daran, daß ihr Leben auch mir anvertraut ist, daß ich für sie wache und die Weichen stelle. Einen Augenblick sehen sie mein kleines Haus, die wenigen Büsche und Blumen meines Gartens und die langen Schlagbäume der Bahnschranken. Mich selbst sehen sie nur als einen Schatten; vielleicht mögen manche noch mein gebräuntes Gesicht und die grauen Haare gesehen haben, ehe sie nach bedeutsameren Reiseeindrücken Ausschau gehalten haben. Sie haben vielleicht auch das melodische Klirren des Läutwerks gehört oder sie sehen meine blankgeputzten Laternen in der Sonne blitzen. Aber im nächsten Augenblick haben sie mich vergessen . ..

Da brausen sie dahin; die einen den Kopf voller Sorgen, voller Pläne, voll Leid, die anderen voll Freude und Erwartung. Immer aber fährt die Hoffnung mit. Wenn ich so darüber nachsinne, scheint mir die Hoffnung die Hauptsache zu sein. Die Menschen fahren zu Taufen, zu Begräbnissen, es sind Hochzeitsreisende darunter und Flüchtlinge. Hier Menschen mit großen Plänen, dort Gescheiterte und Vernichtete. Vielleicht denken sie alle anders, wenn sie wieder zurückfahren, vielleicht sind ihre Rollen dann vertauscht...

Manchmal komme ich mir vor wie der Herr über Leben und Tod all dieser Reisenden. Aber wer denkt an so etwas? Wer dachte denn an Hubert M. vom Stellwerk 3 8? Erst als der große Unheilstag da war und sein Name in allen Zeitungen stand, wußte man, daß es ihn gibt. Es kommt mir schaudernd zu Bewußtsein, welch Zufällen ich ausgeliefert bin. Ich stehe auf meinem Posten, ein kleiner Mann in blauer Uniform, aber hinter mir steht der Tod.

Pflicht ist ein großes Wort, aber der Blitz schlägt auch in Gotteshäuser. Noch heute weiß ich nicht, wie wir an jenem kalten Novembertag die große Limousine von den Schienen brachten, die', wenige Minuten vor dem Passieren des D 182, sich an den Schienen festgeklemmt hatte. Der Eilzug brauste vorbei — ungehindert. Im Speisewagen schimmerten die hellen Tischlampen, und fröhliche Menschen saßen beisammen und tranken und aßen ... Lange sah ich den roten Schlußlichtern des Zuges nach, während mein Herz noch stürmisch pochte. Zwei Minuten, zwei kurze Minuten entschieden über Leben und Tod. Die Menschen im Zug wußten nichts davon.

Zuweilen grüble ich über derlei nach, denn es ist manchmal still und einsam hier. Dann komme ich mir wieder wie ein heimlicher König in meinem Reich vor. Meine Bienen summen, ihre Stöcke stehen in dem winzigen Garten hart neben der rostbraunen Strecke und den verstaubten Feldern.

Des Nachts blitzen an der langen Strecke die Signallichter weiß, grün und rot, unzählige Augen auf dem weiten Weg, Augen der Pflicht, weisende und warnende. Es ist schon etwas Schönes um das, was wir so einfach „Pflicht“ nennen, dieses sich Verlassenkönnen auf den Nächsten, der da auf Posten steht und der weiß und fühlt: auf dich kommt es an, du bist zwar nur ein kleines Rädchen, nur eine Schraube im unübersehbaren Getriebe, aber du bist doch groß, eben durch das ganz selbstverständliche Vertrauen, das sie dir entgegenbringen, all die Unzähligen, die Tag für Tag an dir vorüberhuschen.

Aber es sind wohl nur wenige, die darüber nachdenken, daß wir alle, auch wenn wir uns ganz fremd sind, einander zu danken haben. Jeder kann nur leben und sich in Sicherheit seines Lebens freuen, wenn unzählige Unbekannte auf Posten stehen und ihre Pflicht erfüllen, wie zum Beispiel ich, der kleine Bahnbeamte von Stellwerk 17 ..,

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