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„Die Gegenwart als Geschichtsprozeß”

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— das sollen die sieben modernen Dramen dartun, die das Hausbuch 1956 des Suhrkamp-Verlages unter dem Titel „SPECTACULUM” enthält. („Spectaculum.” Sieben moderne Dramen. Suhrkamp-Verlag, Berlin. 442 Seiten. Preis 8,80 DM. — „Bücher der Neunzehn.” Band 21.) Vier der Dramenautoren des Suhrkamp-Verlages wurden ausgewählt: Bertolt Brecht: „Der gute Mensch von Sezuan” und „Leben des Galilei”. — T. S. Eliot: „Mord im Dom” und „Cocktail Party”. — Max Frisch: „Nun singen sie wieder” und „Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie”. — Bernard Shaw: „Die heilige Johanna”.

Direkte oder indirekte Deutung unserer Gegenwart bieten diese sieben Dramen — darüber besteht kein Zweifel. Daß es, auch noch andere Autoren gäbe, die dieses Anliegen anders darstellen würden — darüber besteht kein Zweifel. Ist es zu bezweifeln, daß wir — Theaterbesucher — Dramen lesen werden? Ich zweifle nicht daran, daß wir dieses Buch lesen werden: weil wir ja schon längst des unmittelbaren Hörens entwöhnt sind Früher, als Großmütter noch Märchen erzählen konnten, vermochten wir zu hören und zu horchen, Worte mit unserer Phantasie zu bebildęrn und zu verstehen. Aus dem Hör-Wesen Mensch wurde ein Lese-Wesen: zumindest möchten wir nach-lesen, was wir einmal gehört haben, denn wir haben nicht ganz gehört und darum auch nicht ganz verstanden. Predigten, Reden? Ansprachen — lauter unmittelbare Aussageformen — werden heutzutage gedruckt und gelesen und nach-gelesen. Wir lieben das „Wörtliche” in Druckerschwärze. — Im Theater kommt zwar zum Hören und Horchen noch das Sehen und Schauen: im theatron hören wir auch noch mit den Augen und sehen mit den Ohren. Aber das Lesewesen, das wörtlich zu verstehen gewohnt ist, versteht nicht genug mit Ohren und Augen — es will noch nach-lesen. Darum ist dieses „Hausbuch”, das moderne, vielaufgeführte Dramen enthält, ein wichtiges Buch. Wichtig, um dem Zeitgenossen die entsprechende Eselsbrücke zu bieten.

Aber verkennen wir nicht ein anderes: Früher lasen wir in der Schule die „Klassiker”, und wenn wir ins Theater kamen, waren wir im voraus verständigt (manchmal allerdings zuviel und zu philologisch-schulmeisterlich!). Mit diesem Lesebuch moderner Dramen könnte es gelingen, daß Imvoraus- verständigte ins Theater kämen und dann Ohr und Aug’ genug hätten, um das zu verstehen, was gespielt wird: „die Gegenwart als Geschichtsprozeß”.

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