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Gefährliche Memoiren
Memoiren und Testamente führender kommunistischer Politiker sind immer gefährlich. Schon der Gründer des Sowjetstaates Lenin wurde eines der ersten Opfer. Sein „Testament“, in dem er vor Stalin als seinem Nachfolger warnte, wurde jahrzehntelang unterschlagen. Erst Chruschtschow brachte es fertig, es zu veröffentlichen. Er selbst, der sich gern „Entstalinisator“ nannte, erlebte nicht die Ausgabe seiner Memoiren, die — wenn schon nicht in der Sowjetunion — in den Westen geschmuggelt, großes Aufsehen machten. Der polnische Parteichef Gomul- ka setzte sich nach seinem Sturz ebenfalls zum Schreibtisch und schrieb über seine „Lebenserfahrungen“, ein Fragment’ erschien aber nicht in Polen, sondern in Israel. Und auch der 1968 gestürzte tschechoslowakische Staats- und Parteichef Anton in Novotny machte kein Geheimnis daraus, daß er an seinen Memoiren arbeite.
Auch über den Inhalt der „Lebensbeichte“ des trockenen langjährigen Parteiapparatschiks wurde in seinem engsten Kreis etwas bekannt. Novotnys Widersacher und späterer Nachfolger in der Parteiführung Gustäv Husäk, der den gestürzten Parteichef oft öffentlich als Verantwortlichen für Schauprozesse bezeichnete, sollte darin als ein Mann, der in den Jahren 1945 bis 1949 viele ungerechte Todesurteile in der Slowakei aussprechen ließ, entlarvt werden. Auch die Rolle des gegenwärtigen Ministerpräsidenten und langjährigen Innenministers Lubomir
Strougal wollte Novotny nicht verschweigen. Aber eine regelrechte Abrechnung sollte es mit der jetzigen Sowjetfütorung geben. Denn noch heute — so Novotny bei Pilsner Bier — sind in führenden Stellen in Moskau Leute, die sich an der Organisierung der großen Schauprozesse der fünfziger Jahre in Prag aktiv beteiligten. Und auch für seinen Sturz hatte der Ex-Pärteichef eine simple Erklärung: Da er es im November 1967 Breschnjew abgelehnt habe, sowjetische Garnisonen in der ČSSR zu errichten, wurde er vom Kreml fallengelassen!
Hochexplosiv sollten diese Memoiren werden, da Novotny alles für ihre Veröffentlichung machen wollte. Aber das Manuskript scheint ein für alle Male unerreichbar geworden zu sein. Kaum haben die Ärzte des Prager Staatssanatoriums dem Parteisekretariat am Moldau-Quai mitgeteilt, daß Novotny einem Herzinfarkt erlegen sei, eilten Beamte des tschechoslowakischen und sowjetischen Staatsssicherheitsdienstes in seine Wohnung. Und als sie sie nach einigen Stunden verließen, nahmen sie auch das unvollendete Manuskript und Novotnys Privatnotizen mit. Böse Zungen in Prag behaupten, daß sich das Paket mit den Schriftstücken schon auf dem Weg nach Moskau befinde. Das wäre übrigens nichts Neues. Schon 1969/70 haben die Sowjets nach Moskau das Geheimarchiv des letzten demokratisch gewählten tschechoslowakischen Staatspräsidenten Dr. Edvard Be- nesch bringen lassen. Gustäv Husäk hat es den Sowjethistorifcem als Dank für die brüderliche Hilfe der Sowjetarmee im August 1968 geschenkt.
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