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Klassiker — modernisiert

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„Ich suche nicht Skandale. Ich inszeniere ganz bescheiden, naiv, fast gläubig. Aber ich möchte mit rettungslos veralteten Vorstellungen gründlich aufräumen. Zum Beispiel mit der, daß die ewig Verzopften sich beim ,grimassier', also beim Grimassenschneider Moliere nicht einmal mehr zu lachen, sich zu amüsieren trauen. Sind denn seine Komödien so hehr, so heilig?“ Also polemisiert Frankreichs prominenter Regisseur und „Comedien-Frangais“ Jean-Louis Barrault, der zur Zeit an der „Burg“ an einer Wiederholung seiner Pariser Moliere-Inszenierung des „Bürgers als Edelmann“ arbeitet.

Natürlich hat man ihm seine aktualisierenden Klassikerregien und -montagen (Rabelais, Feydeau, Moliere) immer wieder heftig angekreidet. Die Kritik empörte sich manchmal über sein aufwendigturbulentes Showtheater, über seine Freude an Poprevuen, am Theater als Superzirkus, der sich am besten gleich in einem Riesenzelt oder einem Sportpalast ereignet.

Aber Barrault argumentiert: „Schließlich haben sich die Regeln, Theater zu spielen, weiterentwickelt! Pop, Zirkus, Pantomimen, Akrobatik, moderne Elemente aller Art haben heute in einer Klassikeraufführung längst ihre Berechtigung. Denn ich möchte dem Publikum die Atmosphäre klarmachen, daß die getanzte ,Gagliarde' heute etwa einem Shoubala entspricht, die Musik von Lully der Popmusik meines Freundes Michel Colombier oder der eines Polnareff, der für mich bloß ein progressiver Lully ist...“

Das Publikum muß Theater-, das heißt Komödienspäße schließlich verstehen, denkt er. Aber wer begreift heute schon manierierte französische Liebeslyrik von 1670? „Schlagerstar Sylvie Vartan kennt hingegen jeder; und nicht anders verhält es sich mit den türkischen Spaßen' Molieres: Man -kann sie heute nur sehr modern aktuell, als Sketches wiedergeben ... Im ganzen: Moliere, der, selbst jung, für einen ebenso jungen, maßlos vergnügungssüchtigen König Stücke geschrieben und Theater gespielt hat, dieser Moliere ist heute einfach eine Mischung aus Marx Brothers, Charly Chaplin, Offenbach und Feydeau.“

Trotz dieser eigenwilligen, manie-ristischen Umformungen der Klassiker ist Barrault selbst ein Klassiker unter Frankreichs Regisseuren geworden: ein großes Kapitel französischer Theatergeschichte wird ihm auch später gewidmet bleiben, ihm, dem berühmt gewordenen Filmemacher („Kinder des Paradieses“), dem Leiter des in die Pariser Theatergeschichte eingegangenen „Odeon“Theaters (bis 1968), dem einst bedeutenden Pantomimen, dem Freund der bedeutendsten Dichter Frankreichs, wie Artaud, Claudel, Sartre, Cocteau, Gide, dem großen Anreger, der erstmals Kafka fürs Pariser Theater entdeckte, Komponisten wie Pierre Boulez und Dichter wie Jean Genet Wege ebnete und sonst immer im Mittelpunkt des Theaterlebens stand.

Mittelpunkt war er immer. Schon als er mit seiner Frau Madelaine Renaud sein „Petit Marigny“ eröffnete. Und er ist es bis heute geblieben. Er, der Vollblutschauspieler, der dies einfach brauchte. Wie er in der französischen Ausgabe seiner im Februar bei S. Fischer in Deutsch erscheinenden Autobiographie „Erinnerungen für die Zukunft“ von sich bekennt: „... je mehr Leute da waren (im Haus seiner Eltern inBeau-regard), desto zufriedener war'ich. Meine ängstliche Natur braucht Gesellschaft, und die Einsamkeit finde ich nur unter Menschen.“

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