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Moliere

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Das Burgtheater plant die Aufführung eines Moliere-Zyklus, in dem die bedeutendsten Chrakaterkomödien des großen französischen Klassikers Platz finden werden. Die Kunst Molieres feierte einen neuen Triumph in der begeisterten Aufnahme, die der ersten dieser Darbietungen, der Komödie „Der eingebildete Krank e“, zuteil wurde.

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Das Burgtheater plant die Aufführung eines Moliere-Zyklus, in dem die bedeutendsten Chrakaterkomödien des großen französischen Klassikers Platz finden werden. Die Kunst Molieres feierte einen neuen Triumph in der begeisterten Aufnahme, die der ersten dieser Darbietungen, der Komödie „Der eingebildete Krank e“, zuteil wurde.

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In dem kurzen Lebensabriß Molieres von Voltaire steht ein einfacher und ausgezeichneter Satz: „Das Genie entfaltet und verengt sich durch alles, was uns umgibt.“ Eine große Wahrheit ist hier mit strenger Genauigkeit ausgesprochen Auch das Genie bedarf zu seiner vollen Entwicklung günstiger Umstände, und die ganz großen Werke der Literatur und der Kunst, die Jahrhunderte überragen, sind dann zustandegekommen, wenn einer außergewöhnlichen Begabung ein außergewöhnliche! Glücksfall begegnete. Die Ausnahmen, die darin bestehen, daß Höchstes unter widrigen Verhältnissen geschaffen wurde, sind selten. Eine solche Ausnahme war Dante. Aber wenn wir die zehn oder zwanzig Gewaltigen durchgehen, die uns wie Götter unter den Menschen erscheinen, werden wir die Regel bestätigt finden, daß zwei ungeheure Faktoren zusammenkommen müssen, um das Ungeheure zu erzeugen: das Genie und das Glück. So war es bei Aischylos und Sophokles, bei Shakespeare, Calderon und Goethe; alle fanden sie Sdiutz und Förderung durch eine große Epoche und durch mächtige Herrscher — mochte die Allmacht auch auf eine Kleinstadt wie Weimar beschränkt sein Die Seltenheit des Zusammentreffens der beiden Faktoren erklärt wohl die Seltenheit des Entstehens wahrhaft großartiger Werke. Im Fall Moliere hat sich das Wunder ereignet. Und was es hervorgebradit hat, ist wieder ein Wunder: eines der größten.

Was wäre aus Moliere ohne Ludwig XIV. geworden? Niemand kann es sagen, aber sicherlidi wäre er nicht de- ganze Moliere geworden. Man ieht es den Werken seiner Meisterepoche an, daß noch etwas anderes als das persönliche Genie ihres Urhebers ihre Vollendurig bewirkte daß ihnen auch alle Möglichkeiten zu Hilfe kamen, die ein ganzes Zeitalter zu vergeben h?tte. Moliere war die Wurzel des Werkes, das wir unter seinem Namen kennen, Ludwig XIV. die Sonne. Eine mächtige Wurzel unter einer strahlenden Sonne- die Bedingungen zur Hervorbrin?,un des Außerordentlichen waren vorhanden. Ludwig XTV. ermöglichte es Moliere nicht nur, bei dem Entwurf seiner Arbeiten mit königlichem Maß zu messen, er schützte ihn auch vor den vielen gefährlichen Gegnern, die er sich durch seine unerschrockene -.atirische Angriffslust zuzog. So sieht man hinter Moliere immer die Gestalt eines der glänzendsten und mächtigsten Herrscher stehen. Moliere konnte sich /entfalten, sich ausdehnen — bis zur äußersten Grenze seiner wunderbaren Begabung.

Was ist nun das eigentliche Große an Moliere, was gibt ihm seinen Rang unter den höchsten Geistern aller Zeiten und Völker? Er war einer der vollkommensten Künstler, die je gelebt haben; gewiß. Aber er war in erster Linie ein großer Mensch. An ihm zeigt es sich mit besonderer Klarheit, daß die großen Schriftsteller vor allem große Menschen sind: ein Buch, auch ein sehr gutes Buch, ist im Grunde genommen nichts, wenn nicht ein großer Mensch dahintersteht. Das Kennzeichen eines höheren Geistes sind seine Grundanschauungen; die anderen Fähigkeiter dienen nur dazu, sie zu entwickeln und zum Ausdruck zu bringen. Fehlt dieser Grund, so ist alles andere nur mittelmäßie; der Gelehrte bleibt ein Handwerker, der Künstler ein Zerstreuer. Ein menschliches Ganzes muß erst da sein, ehe die Einzelheiten ernstlich wirken können.

Und ein Mensch war Moliere, ein glühender, leidewder Mensch wie kaum ein zweiter. Das ist es, was vor allem aus seinen Lustspielen spricht, lacht, weint, zürnt und schreit, was ihnen die unvergleichliche menschliche Kraft und Tiefe gibt. Wie ein Kind steht er vor der Welt, großmütigen Herzens und gläubig und sieht mit Entsetzen, wie verkehrt, wie niedrig sie ist, wie alle erdenklichen Torheiten und Laster sie beherrschen. Ein laues Herz, wie Philinte, der Freund des Alceste, eines hat, ist von diesem Schauspiel nicht weiter berührt. Was gehen die Menschen es an! Mögen sie sein, wie sie wollen! Ein Herz aber wie das Molieres blutet, es tröstet sich nicht. Großmut ist sein Kennzeichen, es kar.n sich nicht in sich selbst zurückziehen, um sich damit zufriedenzugeben1 es umfaßt die Menschheit und leidet unter ihren schrecklichen Schwächen wie unter einem persönlichen Schicksal. Diese besondere Fähigkeit, den allgemeinen Zustand der Menschheit als eine unab'weisliche persönliche Angelegenheit zu empfinden, unterscheidet ja das Genie überhaupt von dem Durchschnitt der Menschen, und gerade in diesem Punkt ist Moliere eines der höchsten Beispiele die wir kennen.

Sein Grunderlebnis ist sein Staunen, sein Schmerz, seine Empörung über die tiefe Gegensätzlichkeit, die zwischen seinem Wesen und dem seiner täglichen Umwelt besteht. Er kann es nicht fassen, daß die anderen nicht auch so gerade und einfach, so ehrlich und- offen sind wie er. Immer wieder stößt er auf diese Gegensätzlichkeit, die ihn beunruhigt und quält, und auf die Fragen, die sie im auf wirft, findet er keine Antwort. Von Natur aus liebt er die Menschen, wie ein überschwenglich Veranlagter sie nur lieben kann, und er wünscht sich nichts anderes, aU daß diese Liebe allgemein und jeder ihrer wert sei. Aber da ist die menschliche Dummheit, die menschliche Schlechtigkeit, die alle Liebe zerstört und die Erde in eine Hölle verwandelt. Warum ist es aber so? Warum sind die Menschen so in ihre Laster vernarrt? Wie seltsam, wie schrecklidi sind diese Menschen! Wie abstoßend sind die Verzerrungen ihres Innern! Nein. Moliere ist keiner von denen, die sich an das menschliche Schauspiel gewöhnen können.

Von dem leidenschaftlichen Drang nach Erkenntnis dieser menschlichen Seele ergriffen, beobachtet er sie, erforscht er sie, spürt er ihr nach mit der ganzen Bitterkeit des Enttäuschten. Er notiert sich alles Verkehrte, das er an ihr wahrnimmt, und ihre Laster treten ihm, der sie verabscheut, mit ungeheurer Plastik vor die Augen Es ist, wenn man ein liebendes Herz hat. kaum möglich, auf dieser Erde zu leben, und was ist es nur in Moliere. daß die Scheusale, die sie bevölkern, vor seinen Augen ein so grandioses Ausmaß annehmen? Seine Phantasie ist es, sein künstlerisches Genie, das die gewonnenen Erfahrungen ins Ungeheuerliche treibt. Moliere lacht, denn anderes bleibt nicht mehr übrig; er lacht eines der größten Gelächter der Welt. Welcher Schmerz in diesem Lachen! Welcher verlorene Liebesschrei! Er wird einer der größten, einer der klassischen Satiriker der Menschheit. Er formt diese Menschheit, indem er das Gegenteil von sich selbst formt: er schafft gleichsam das Negativ zu seiner Natur. Denn eben dazu wird er von seiner Erfahrung getrieben: hier ist das unfehlbare Rezept zur Abfassung großer Komödien. Immer genau das Gegenteil'von sich selbst zeichnen, das Gegenteil von dem, was er, der Große und Glühende, in dieser oder jener Lage empfände, das muß dann stimmen, das muß sitzen, Strich um Strich So entsteht der Charakter der Eitelkeit, der Heuchelei, der Mittelmäßigkeit, des Geizes. Und diese Charaktere werden genau so lebendig sein wie er selbst; denn sie müssen als Kontrastbilder das Leben des Originals in sich haben Der Geizige wird so geizig sein, wie er 'selbst freigebig ist gegen seine Freunde und gegen die Armen, der Heuchler so verlogen, wie er selbst aufrichtig ist.

So sind dann die Menschen gestaltet, wie sie in Wahrheit sind, nur daß er ihnen noch einen Zug von Größe gibt, der aus seiner eigenen Größe geholt ist: der Geizige ist fast schon ein Heros des Geizes, er opfert seine Kinder, er opfert alles dem Geld. Ich finde immer, daß man Moliere zerkleinert, wenn man von ihm sagt, er habe die Menschen dadurch, daß er sie in ihrer Wahrheit zeichnete, züchtigen wollen. Züchtigen, das ist die Absicht der kleineren Satiriker, auch der trefflichen unter ihnen: Moliere will nur gestalten, will das Komische gestalten, wie der Tragiker das Tragische: er will eine Mythologie menschlicher Charaktere formen, einen Lear, einen Othello — nach seiner Art. Das geht über jede Absicht hinaus, das ist nur noch Kunst: reine, große, absolute Kunst.

Wie Sophokles und Shakespeare ist Moliere ein nationaler Dichter; er ist der Meister einer Kunst, die nur in seinem Land entstehen konnte Der Mensch Moliere ist ebenso französisch wie der Dichter; es gibt nichts, das französischer wäre als seine Wesensart und seine Komödien. Und zwar stellt sich in Moliere das ganze französische Volk dar, von seinem breiten Grunde bis hinauf zu den äußersten Spitzen seiner Geistigkeit: alle Schichten, mit denen er in Berührung kam, halfen mit an der Bildung seines Werkes Er war ein Kind des Volker und hatte .davon seine Reditlichkeit, seine Fruchtbarkeit, seine Unbefangenheit, seinen gesunden Mutterwitz. Es gibt Stellen in seinen Komödien, die an drolliger sprachlicher Urkraft mit Rabelais wetteifern: hier ist es das Kind des Volkes, das seiner Laune die Zügel schießen läßt. Aber dieses Kind war auch bildsam: es verfeinerte sich im Umgang mit den ersten Kreisen seiner ,Zeit in einem solchen Grad, daß sich ihre ganze intellektuelle Kultur in seinen Verser spiegeln konnte. Man könnte sagen, daß sich- in Moliere Rabelais und Voltaire die Hand reichen, daß sich das volkstümliche und das klassische französische, Stilelement in ihm genau die Waage halten; daß er also der Inbegriff des Französischen überhaupt ist.

Und wenn man sich fragt, was denn eigentlich das Besondere des französischen Geistes ausmache, so wird die kürze-te Antwort darauf die sein, die schon Hyppolite Taine gegeben hat: die Gabe, sich gut auszudrücken. Seine Idee so zu gestalten, daß sie vollkommen klar und jedermann faßbar sei, ihre letzte Form aus ihr hcrausz.ul ristalli-sieren, das war immer der Ehrgeiz des französischen Schrifttums. Daher legte keine Nation so viel Wert auf Reinheit und Durchsichtigkeit des Stils wie die französische; ihre großen Schriftsteller bemühten sich vor allem, Juweliere des Wortes zu sein. Auch Molieres Stil hat diese erlesene Geschliffenheit; in seiner Klarheit und Präzision ist er das genaue Abbild des französischen Ideals*. Der eigentliche Ausdruck dieses Ideals ist der Aphorismus, das Epigramm als die knappste und schärfste Form, auf die ein Gedanke zugespitzt werden kann: Moliere ist hierin ebenso groß wie Larochefoucauld; der „Misanthrop“ ist eine strahlende Kette epigrammatischer Perlen. Aber diese gefeilte Sprache, wie natürlich ist zugleich, wie mannigfaltig, wie lebendig in ihrer Beweglichkeit und ihrem Witz! Auch auf der höchsten Stufe künstlerischer Läuterung bleibt Moliere doch immer in seinem Volk verwurzelt; er weiß, daß ihm sein Bestes entschwände, wenn er dessen unbefangene Sprache vergäße.

Der starke Trieb, sich gut auszudrücken, zeigt sich auch in der Art, wie Moliere seine Charaktere formt: Er entnimmt seinem Gegenstand nur eine allgemeine, jedermann zugängliche Idee, konzipiert seinen Charakter ausschließlich auf diese Idee hin und läßt die ganze Masse des kleinen Details beiseite, die eine Figur realistisch verlebendigen würde. Nicht nur die französische, die ganze romanische Geistesrichtung spricht sich in dieser Methode aus: sie hat nicht das Bedürfnis, die Natur vollständig nachzubilden, sie hat den Trieb, sie zu vereinfachen. Moliere, der Lustspieldichter, strebt diesem reinen, absoluten Ideal im Komischen nach: er stellt die einfachen Urbilder aller menschlichen Lächerlichkeiten auf. Unfehlbar handhabt er sein Kunstgestz, das über der Wirklichkeit steht: seine Charaktere bekommen durch diese Konzentration auf das Wesentliche eine Schärfe, als wären sie durch optische Linsen gesehen. Der Geizige ist nur geizig, er hat nur diese einzige Qualität, aber aller Geiz der Welt ist in ihm bis ins letzte zusammengepreßt. Moliere personifiziere Eigenschaften, hat man gesagt; der Akzent ist aber darauf zu legen, daß er sie personifiziert. Denn trotz aller Abstraktion wirken seine Charaktere nicht wie' erkünstelte Schemen, sondern so wahr, daß ihre Namen, Tartüff, Harpagon usw., auf das Leben selbst übertragen wurden. Das Geheimnis dieser Wirkung liegt in der unerhörten Sicherheit, mit der Moliere jedes Wort, jede Geste seiner Figuren aus der einen Idee herausgestaltet, und in der unerschöpflichen Fülle der Beobachtung, die ihm zur Zeichnung jedes Charakters zur Verfügung steht. Durch diese hellseherische Kunst im Durchdringen und Gestalten menschlicher Torheiten, durch diese bezwingende Fähigkeit, einen Charakter „gut auszudrücken“, ist Moliere eine Art Kategorie der Weltdeutung geworden: man kann die Welt molierisch sehen. Sie ist, wenn man sie so betrachtet, voll von Moliere-Figuren, ja mehr noch: in jedem einzelnen Menschen steckt Molierisches, das zum Lachen reizt. Molieresche Situationen, Molieresche Szenen, sie gibt es täglich und überall, das ganze Menschentreiben ist von jenen Zügen durchsetzt, die Moliere in kristallene Formen gegossen hat. Höheres läßt sich von keinem Dramatiker, von keinem Dichter der Welt sagen — und von wie wenigen Gleiches!

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