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Ein Epilog

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Es gehört zur besonderen Tragik des Menschen, viele Dinge seiner Bildung und Gesittung erst dann überblicken zu können, wenn sie nicht mehr in seinem Besitze sind. Er macht dann Kulturgeschichte daraus und erlebt sie aufs neue im Geiste, das heißt, er erweckt sie zu noch höherer Lebendigkeit, aber dann nur noch für den einzelnen, um des Wissens willen.

Ein solches zeitliches Wesen, bereits schwankend zwischen Abschied von der Wirklichkeit und Eintritt in die historische Betrachtung, ist unser europäischer Mittelstand. Und es mag sich wohl geziemen, ihm eine Grab- oder Taufrede zu halten, wie man eben will.

Vor allem wird uns klar, daß seinem Namen Mittelstand reichere Bedeutung zukommt, als wir ihm bisher zubilligten. Wir verstanden darunter vor allem den Stand der mittleren Verhältnisse, wobei wir sein materielles Leben viel stärker im Auge behielten als sein geistiges. Es liegt im Worte aber auch das „In-der-Mitte-Stehen“, und auch der Sinn der „Vermittlung“ läßt sich nicht von der Hand weisen. Und selbst der Begriff, ein „Mittel“ zu sein, steht irgendwie im Hintergründe. Der schöne Reichtum unserer Worte kommt auch hier zur Geltung, wobei wir auch des klugen Satzes nicht vergessen wollen, daß auch die Wahrheit zumeist in der Mitte liegt.

Vielleicht erhöhte seine Wesenheit sogar, daß ihm die starre Geschlossenheit der anderen Stände niemals eignete. Man konnte aus dem einen zu ihm hinaufsteigen, wenn wir so sagen wollen; man arbeitete sich durch ihn zum höheren empor, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Es war dem Mittelstände jenes Bewegliche, Zellenbeschwingte eigen, das ein Zeichen fruchtbarer Lebendigkeit ist.

Bedenken wir ferner: Er vermittelte Arbeitswert und Auslese jeder Art, ja er mußte Verständnis für beides haben, und er gehörte auch beidem gemäßigt an. Es lag ja durchaus an ihm, Werte der anderen Stände in sich zu vereinigen. Man konnte als sein Mitglied fleißig wie ein Taglöhner und hochgesinnt wie ein Edelmann sein. Und es war oft nur ein Schritt von einem Reiche ins andere.

Eine schönere Grabrede wäre ihm kaum zu halten als diese: Daß noch nirgends in Europa seine Entbehrlichkeit restlos erwiesen ist. Es webt noch immer wie ein Geheimnis um ihn, für das sich noch kein Ersatz im Sozialen gefunden hat: es war das Vorauswissen um sein Schicksal. Er hatte mit dem Leben eigentlich abgeschlossen, und gerade dadurch ward er innerlich sein Herr. Es ist das so gemeint: Der Beamte, der Bürger, der Offizier, sie kannten die Höhe ihrer Lebensführung genau, sie konnten, wenn nicht gerade ein Haupttreffer sie beglückte, auf zwanzig Jahre hinaus auf den Heller berechnen, wie ihr äußeres Leben in seiner Einfachheit und notgedrungenen Mäßigung sich gestalten werde. Sie wurden niemals von Angst gepeinigt um das trockene Brot, sie wurden aber auch niemals von phantastischer Sehnsucht gehetzt nach abenteuerlicher Schicksalswendung.

Und indem sie derart äußerlich gebunden waren, wurden innere Kräfte frei zum Verständnis idealer Werte. Es waren ja dies die einzigen, die ihr Dasein zu erhöhen vermochten. Wir wissen es längst, daß sveder Lebensnot noch Lebensüppigkeit der Pflege innerer Werte günstig sird. Nicht die gehetzte Seele, die in sich beruhigte, ist Nährboden aller geistigen Dinge! Weder der in Arbeitssklaverei Verbitterte noch der nach Reichtum und Lebensüppigkeit Jagende erkennt die wahren Werte des Daseins. Der Mittelstand ertrug seine Armut (denn es bedeutete Armut, auf alle Vorteile des Reichtums verzichten zu müssen) nit einer Einsicht und Würde, die nichts Geringeres als Lebensweis heit darstellte. Alle sehr kostbaren Vergnügungen mußten ihm fremd bleiben, also sah er sich nach den billigen um. Und siehe, es zeigte sich, daß diese gerade die vornehmsten waren: Freude an der Natur, die bei jedem Spaziergang zu finden ist, ein wenig Musik und Theater, ein gutes Buch.

Erfreulich war auch die Vielfarbigkeit dieses Standes, seine Gliederung nach allen möglichen amtlichen Berufen und geistigen Wirksamkeiten. Es erfüllte sich alles (mit Ausnahmen hat man ja überall zu rechnen) in einer Art harmonischen Pflichtgefühls, das man ruhig als das eigentliche innerste Räderwerk des Staates bezeichnen konnte. Die Menschheitserlöser von heute sind immer der Meinung oder wollen anderen wenigstens die Meinung beibringen, es sei dies alles nur auf der Gewalt von Bajonetten aufgebaut gewesen. Nichts ist unrichtiger als dies. Die Wirksamkeit des gebildeten Mittelstandes war auf freiwilliger Erkenntnis aufgebaut, daß Fügung in das beruhigte Maß und Ausgleich aller Ansprüche die Seele aller sozialen Dinge seien. Es war ihm ein geheimes Wissen eigen von der Wunderkraft der Einschränkung, der Entsagung, und indem er entsagte, war er zugleich auch wieder befreit, er wurde Verwalter der geistigen Dinge.

Bedenkt man dies alles, so wäre man versucht, bei dieser Grabrede zu sagen, daß mit ihm vielleicht der „abgerundete Mensch“ gestorben ist. Denn was gab es, das er nicht in ich verkörperte? Was er genoß, war das Gesunde. Was er entbehrte, war das Ungesunde. Er war lebendig für sich allein. Aber hochmütige Ausschaltung aus dem allgemein Menschlichen lag ihm grundsätzlich fern. Ein schönes Wort Walter Rathenaus sagt: „Zwei Dinge schließen einander aus: Wer für die Sache ist, kann nicht für die Wirkung sein; wer für die Wirkung ist, kann nicht für die Sache sein.“ Der Mittelstand diente der Sache, und seine Abenteuer erlebte er im Geiste oder im Herzen oder in der Seele. Zu anderem reichte es nicht aus, und das war sein Geheimnis und sein Gewinn.

Er nimmt es jetzt mit sich ins Grab, und die Stürme der Menschheit brausen darüber hin.

Vielleicht aber holt man ihn in späteren Zeiten wieder hervor und erweckt ihn zu neuer bescheidener Lebendigkeit? Sein letzter Sinn war ja Gleichgewicht, und dieses läßt sich auf die Dauer schwer entbehren.

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