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Das verlorene Paradies oder Streit um „Otschi"

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Der zugewanderte Bär „Nurmi" soll in einen Wildpark. Müssen wir deshalb ein schlechtes Gewissen haben?

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Der zugewanderte Bär „Nurmi" soll in einen Wildpark. Müssen wir deshalb ein schlechtes Gewissen haben?

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Seit er den Hauptplatz im steiri-schen Wallfahrtsort Mariazell unsicher gemacht hat, ist „Nurmi" endgültig in Ungnade gefallen. Schon vorher hatte man es dem Problembären übel genommen, daß er sich über Fischteiche und Kaninchenställe hermacht und - wie es sich für so ein Zotteltier eben gehört - über Bienenstöcke. Aber jetzt ging sein „Wildlife" denn doch zu weit Selbst der World Wide Fund For Na-ture (WWF), Gönner und Liebhaber frei ausgesetzter Bären, wurde aktiv. Nurmi muß aus dem Verkehr gezogen werden. Nein, nein, er wird nicht getötet. Seine Durchlaucht, Prinz Reuss, will dem Missetäter in seinem Wildpark im steirischen Mautern Asyl gewähren.

Nurmi ist nicht der einzige seiner Artgenossen, über die sich der WWF Gedanken machen muß. Er war „illegal" aus Ex-Jugoslawien eingewandert, im Unterschied zu anderen Braunbären, die der WWF in den letzten Jahren im Ötscherland angesiedelt hat. Ein erster war schon in den siebziger Jahren ins Land gekommen, 1989 bekam er eine Gefährtin. Es gab Nachwuchs und heute weiß eigentlich niemand so ganz genau, wie viele Bären wirklich dort herumtollen. So zehn oder elf müssen es inzwischen sein, meint man beim WWF, zugewandert sind auch welche. Viele Bewohner im niederösterreichisch-steirischen Kalkalpengebiet waren zufrieden, schließlich hatten sie eine neue Touristenattraktion.

Aber so problemlos war dieses Zusammenleben auch nie. In- und Ausländer, die zum Bären-Schauen kamen, hatten meist keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollten. Manche wollten die lieben „Ötschi"-Bär-Ii gar füttern. Verständlich, wo sie doch so lieb ausschauen, gar nicht mächtig-gefährlich wie der Grizzly im Fernsehen... Heute klopfen die WWF-Leute auch an die eigene Brust: Na ja, man hätte den Leuten eigentlich schon sagen sollen, wie man mit Bären umgehen muß.

Das alles könnte man für eine schnurrige Geschichte halten. Es ist aber keine.

Der WWF meint: Die Menschen müssen Toleranz lernen. Auch den Bären gegenüber und auch dann, wenn sie Schäden verursachen. Im vorigen Jahrhundert hätten unsere Vorfahren Meister Petz nahezu ausgerottet, und nun gebe es sozusagen die moralische Pflicht zur Wiedergutmachung. „Versöhnung" von Mensch und Tier ist angesagt.

Dieses Argumentationsmuster ist bekannt: Wir haben unterdrückt und ausgebeutet - die Kolonien, die Dritte Welt - und Schuld verlangt Sühne. Entwicklungshilfe genügt nicht. Eine neue Weltwirtschaftsordnung muß her. Ist das mit den Tieren nicht genauso? Schließlich spricht doch auch schon das Alte Testament, wenn es den gottgewollten Zustand der Welt umschreibt, vom Frieden der Tiere untereinander und mit dem Menschen. Auch der WWF bekennt sich da anscheinend zum Fundamentalismus. Er möchte so ein Paradies (wieder?) herstellen. Mensch und Tier, friedlich vereint.

Mit Wünschen steht die Tierschutzorganisation nicht allein da. Es gibt viele Ideologien und Utopien, die ein Bild der heilen Welt entwerfen. Eine Wirklichkeit ohne Leid und Streit, vollkommene Harmonie. Solche Sehnsüchte gehören zu uns Menschen und zu unserem Dasein.

Aber wäre es nicht notwendig zu unterscheiden? Was ist möglich, was ist dringlich?

Natürlich gibt es viele Anliegen, die berechtigt sind. Aber wenn es schon um das Wohl von Tieren geht: Sind die vielen namenlosen Hühner in ihren winzigen Gitterkäfigen, die Qualen von Schlachttieren, ist überhaupt das systematisch produzierte Tierleid nicht eher Grund zum Ärgernis?

Es wird schon stimmen, daß manche Menschen mit der Tierliebe das schlechte Gewissen verdrängen, das sie haben müßten, wenn sie an den Umgang mit ihresgleichen denken. Unmenschlichkeit wird aber nicht dadurch gesühnt, daß wir uns Sorgen um „Nurmi" machen. Oder um „Cil-ka" und „Djuro" - so heißen die braven, vom WWF ausgesetzten Bären - oder um „Sammy', den entlaufenen und wiedergefundenen kleinen Kaiman in Deutschland.

Es ist wohl nicht das ganz Richti-ge, sich Paradiesvorstellungen hinzufeben, solange anderswo viel mehr .ngagement gefordert wäre...

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