7126097-1997_05_12.jpg
Digital In Arbeit

Der Samariter in der „ Globalisierungsfalle "

Werbung
Werbung
Werbung

Der barmherzige Samariter reitet nicht mehr auf einem Esel nach Jericho. Er sitzt beim Schreibtisch und sortiert Post. Die Opfer bringt der Briefträger täglich ins Haus. In Form von Bettelbriefen: „Helft uns Blinden", „Bettet die Kinder", „Spendet dem Roten Kreuz", „Unterstützt amnesty international" und „Fördert die Aktion Leben".

Als er sie las, hatte er Mitleid. Und er füllte die Erlagscheine aus. Allen gab er das gleiche. Als er beruflich in der Stadt zu tun hatte, begegnete er zwei Aktivisten. Der eine sammelte Unterschriften für „Die Rechte der Kurden", der andere „Gegen die Unterdrückung der Tamilen". Als er sie sali, unterschrieb er auf beiden Listen. Und am Abend, bei „Zeit im Bild", erfuhr er vom Schicksal der Borna in Bulgarien, von den Greueltaten an den Tutsis und von der Not der Arbeitslosen im eigenen Land. Eine wahre Flut von Unglück war an ihm vorbeigezogen. Er hatte das Gefühl, ihm werde alles Elend der Welt aufgelastet. Er war müde, nicht vom Betten, sondern vom Zuschauen. Wenn er schlief, dann träumte ihm manchmal von unzähligen Menschenhänden, die sich ihm entgegenstreckten. Und er selbst fühlte sich dann wie ein wahlkämpfender Politiker, der sich händeschüttelnd durch das Land bewegt. „Ich schüttle den Opfern kurz die Hände", dachte er, „den Tamilen, den Kurden, den Bosniern, und dann muß ich weiter, im Bhythmus der Nachrichtensendungen, nach Zaire und Burundi." Er merkte, daß sich seine echte Anteilnahme wandelte in ein vages Mitleid mit allen. Er saß in der „Globalisierungsfalle". Er pendelte zwischen globaler Sympathie und begrenztem Engagement. Manchmal beneidet er den biblischen Samariter, der nur einen Halbtoten neben dem Weg liegen sah.

Er begriff, daß er sich bescheiden mußte. „Wenn ich jedermanns Bruder sein will, werde ich bald niemandes Bruder sein. Wenn ich mit meiner Hilfe überall sein will, werde ich bald niemand mehr helfen. Die Idee der Solidarität muß auf dem Weg der Freundschaft in die Tat umgesetzt werden. Ich kann nur dann ein Freund der Menschen sein, wenn ich mit wenigen engere Bindung habe und andere dafür aufgebe. Verantwortung muß, wenn sie Wirkung zeitigen will, sich ein begrenztes Feld der Verbundenheit schaffen."

So „wählte" der Samariter seine „Bettler" aus. Nicht'alleiri das Mitleid sollte seine Beziehungen zu seinen Nächsten bestimmen; sondern auch

Gefühle wie Be-spekt, Bewunderung und Freude an ihnen. Und er entschloß sich für Treue und Dauer. „Heutzutage Mensch zu sein, bedeutet zwischen zwei Unmenschlichkeiten zu wählen: Überfliegen oder Auswählen. Sich zu engagieren bedeutet immer, anderes auszuschließen, andere Dinge auf empörende Weise zu vergessen, sie bewußt zu ignorieren" (Pascal Bruckner).

Der Samariter erinnert sich an den, der ihn einst als Beispiel hingestellt hat. Von ihm hat er gelernt, daß wir begrenzten Menschen nicht alles I ,eid lindern und nicht alle Tränen trocknen müssen.

Das müssen wir von dem erhoffen, der die Schöpfung global zu verantworten hat. Das sind nicht wir. Gott sei Dank!

Der Autor ist

Rektor des Bildungshauses Schloß Puchberg; der Beilrag ist in „ Termine -Themen" erschienen Nr. 5/1997.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung