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Atheismus und Moral

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„Warum genehmigt die staatliche Zensur, die Texte zu religiösen Themen aufmerksam beäugt, auf so einfache Weise den Druck von moralisch schädlichen Büchern und Zeitschriften?“ Das ist nur ein Satz aus dem Hirtenbrief des polnischen Episkopats, der in der Adventszeit 1977 von allen Kanzeln verlesen wurde. Damit ist zum ersten Mal auch der westlichen Welt ohne Beschönigung mitgeteilt worden, daß die Auflösung der sittlichen Grundnormen in Polen ein beunruhigendes Ausmaß angenommen hat. Und dies nicht nur mit stillschweigender Duldung des Staates, sondern mit seiner tatkräftigen Unterstützung. Hotels, Urlaubshäuser, Parties in Akademikerkreisen werden aufgezählt. Hinzuzufügen wäre: Schwarzhandel, Westtouristenströme, Wirtschaftszwänge - alles hat seinen Teil an der Demoralisierung und überall schaut der allgegenwärtige Staat nicht nur zu, sondernfördert willent- oder unwillentlich den Zerfall.

Gleiches läßt sich in sämtlichen Staaten Osteuropas beobachten. Die DDR maischiert auch hier an der Spitze. Was sich an Libertinismus in ostdeutschen Jugendverbänden, an' Campingstränden und bei Betriebsfeiern bis hin zu äußerlich ehrenhaften Geburtstagsfeiern abspielt, stellt alles in den Schatten, was im Westen von Profis in dieser Richtung geleistet wird. Die CSSR steht dem in nichts nach. Hier kommt ein wahnwitziger Alkoholkonsum „erleichternd“ hinzu, aber auch der Überhang an Bargeld, dem keine brauchbaren Waren gegenüberstehen. Waren bislang die Familien Schutz und Trutz vor und gegen staatliche Willkür, so greift der Abbau von Hemmungen jetzt in den innersten Kreis. Ehefrauen werden zu Gespielinnen auf Zeit, Kinder zu Zeugen zerbrechender Familien.

Das alles geschieht zur gleichen Zeit, da die letzten Reste religiöser und damit sittlicher Beeinflussung bekämpft, die Lehren der Kirche als Märchen und ihre Verkünder als unaufgeklärte Opas von gestern lächerlich gemacht werden. Der Atheismus, so liest man es überall, schafft den neuen Menschen. Wahrhaftig, es ist, zumal für slawische Völker, ganz neu, daß Ehrfurcht vor den Alten, Respekt vor der Familie und säuberliche Scheidung zwischen Freundschaft und Promiskuität schwinden. Der „Fortschritt“ ist mit Händen zu greifen - die polnischen Bischöfe hatten als erste den Mut, warnend ihre Stimme zu erheben. Was dem Kommunismus nicht gelang - Osteuropas Völker zu entmündigen - sollte es der demoralisierenden Wirkung des Atheismus gelingen?

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