Manchmal würde es nicht schaden, einige Stereotypen in der politischen Diskussion Österreichs zu hinterfragen. Drei derzeit besonders beliebte sind: die französische Familienpolitik ist nachahmenswert, das britische Gesundheitssystem dafür gar nicht, und von amerikanischen Schulen wenden wir uns mit Grausen ab.
Ja, es stimmt, in der klassischen französischen Familie hat man drei Kinder - und nicht nur ein bis zwei. Die öffentliche Betreuung ist gut ausgebaut und das dritte Kind vom Staat besonders hoch subventioniert. Die Kehrseite: Nach wenigen Wochen Mutterschutz gehen Eltern wieder ganztägig arbeiten - die Kinder werden abgegeben. Viele Pariser Familien verbringen nur mehr das Wochenende gemeinsam, die Jugendkriminalität ist hoch.
Vom britischen Gesundheitswesen wiederum kennen wir nur düstere Storys: keine Operationen mehr ab einem bestimmten Alter beispielsweise. Doch österreichische Ärzte, die in Großbritannien gearbeitet haben, berichten auch noch anderes: Karriere dank Leistung und ohne "Vitamin B", Ärzte und Schwestern sind ein funktionierendes Team, das Arbeitsklima ist gut, Jungärzte werden unterstützt. Übrigens haben die Briten eine der längsten Lebenserwartungen der Welt.
Und ist wirklich alles schlecht an amerikanischen Schulen? Wer mit Kind und Kegel eine Zeit lang in den USA (in zugegebenermaßen guten Wohngegenden) gelebt hat, erfährt nach der Rückkehr einen Kulturschock. Denn jenseits des großen Teichs werden Schüler nicht ausschließlich an ihren Fehlern, sondern überwiegend an den Stärken gemessen. So entsteht Lernfreude.
Österreich ist Weltmeister in der Pflege eigener und fremder Mythen. Doch manchmal schadet es gar nicht, hinter die Fassade zu schauen.
Die Autorin ist innenpolitische Redakteurin des "Standard".
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