"Realitätssinn macht sich breit"

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Historiker Karl Kaser über die Auswirkungen eines unabhängigen Kosovo auf andere serbische Regionen.

Die Furche: Serbien bezeichnet den Kosovo stets als Wiege der Geschichte Serbiens. Inwieweit ist diese Aussage zutreffend?

Karl Kaser: Im Sinne historischer Mythenbildung kann man den Kosovo als die Wiege der Geschichte Serbiens ansehen. Die Region repräsentiert insofern das mittelalterliche serbische Reich, als hier die bedeutendsten serbisch-orthodoxen Klöster stehen und diese damals zu Serbien gehörende Region eine besondere Bedeutung gehabt haben musste. Allerdings sind vielen heutigen Staaten mittelalterliche Reichteile abhanden gekommen, ohne dass um deren Erhalt Kriege geführt wurden. In dieser Frage übt sich die serbische Öffentlichkeit noch in Mythenbildung - aber ein Realitätssinn macht sich zunehmend breit.

Die Furche: Welche Auswirkungen hätte ein unabhängiger Kosovo für Serbien?

Kaser: Der Verlust des Kosovo würde erstens bedeuten, dass man sich verstärkt Gedanken machen wird über die Zukunft der zweiten ehemals autonomen Region, nämlich der Vojvodina. Das hat insofern große Bedeutung für Serbien, weil der Kosovo, wirtschaftlich gesehen, ja ein Defizitgeschäft ist, während die Vojvodina die reichste Region Serbiens darstellt. Serbien wird zweitens versuchen, den Status der bosnischen Republika Srpska infrage zu stellen. Die Argumentation aus Belgrad wird lauten: Wenn die Unabhängigkeit Kosovos national argumentiert wird, so muss dies in gleichem Ausmaß auch für die serbische Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina gelten

Die Furche: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, um einen stabilen Kosovo zu schaffen?

Kaser: Es wird - wann auch immer - zu einer Form von Unabhängigkeit für den Kosovo kommen. Die ausländischen Truppen werden weiterhin stationiert bleiben müssen, denn im Moment traut es niemand einer kosovarischen Regierung zu, aus eigener Kraft für Stabilität und Sicherheit zu sorgen. Die künftigen kosovarischen Regierungen werden daran gemessen werden, ob sie Rechtssicherheit herstellen können. Denn nur so wird es zu den erhofften ausländischen Investitionen im Kosovo kommen.

Das Gespräch führten David Kriegleder und Gregor Stuhlpfarrer. Karl Kaser ist Historiker an der Uni-Graz und Direktor des "Center for the Study of Balkan Societies and Cultures".

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