Selbstgefälligkeit und großer Zirkus

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Im Rahmen des Young Directors Project bei den Salzburger Festspielen kam es zu zwei Aufführungen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Viktor Bodó bringt Lewis Carrolls Kinderbuch „Alice“ auf die Bühne, „Temporary Distortion“ bedient sich amerikanischer Mythen.

Die Produktionen des Young Directors Project, so ist es gedacht, sind das wilde, ungebändigte Probeforum der Salzburger Festspiele, wo Regisseure, denen die Zukunft offen stehen sollte, das Unerhörte ausprobieren dürfen. Alles ist möglich, große, überraschende Momente ebenso wie mickrig-verkorkste Ideen. Vier Aufführungen aus aller Welt gelangen im Lauf des Sommers zur Aufführung, und eine wird den Preis der Firma Montblanc erhalten, die das Programm zur Gänze subventioniert.

Im Wunderland

Zwei Aufführungen standen bereits zur Diskussion, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Aus Graz kommt „Alice“, eine Bearbeitung des großen Kinderbuchklassikers von Lewis Carroll in der Fassung von Roland Schimmelpfennig. Was der ungarische Regisseur Viktor Bodó daraus macht, ist Theater als großer Zirkus. Er darf sich vor allem auf die grandiose Darstellerin Andrea Wenzl verlassen, die immer für eine akrobatische Einlage gut ist. Sie ist kindlich und übermütig, lolitahaft berechnend und kess, und bisweilen wirkt dieser so naive Gegenpol zur Vernünftigkeit der Erwachsenenwelt, kaum ist er im Wunderland des Unsinns angekommen, wie der leibhaftige Gott der Logik. Das ist ja das Besondere an Alice, dass sie sich zwar als Kind als starke Verfechterin einer Gegenwelt zur Klarheit des Denkens profilieren darf, aber in der Welt des reinen Aberwitzes ihr Erbe der Vernunft nicht los wird. Alice stürzt unverhofft in eine Welt, deren Gesetzmäßigkeiten ihr nicht zugänglich sind. Womöglich gibt es ja auch gar keine, und jetzt, wo sie ganz Kind sein dürfte, weil Regeln keine Rolle mehr spielen, kommt so etwas wie Sehnsucht nach Normen auf.

Das kommt in der Aufführung Viktor Bodós gut zur Geltung, der es genießt, sich in einer Wirklichkeit austoben zu dürfen, von denen das handelsübliche bürgerliche Bewusstsein keinen Begriff hat. Kein Wunder, was im Wunderland geschieht, sperrt sich dagegen, Erklärungen zugänglich zu sein. Gerade deshalb erwacht in Alice das Bedürfnis nach Aufklärung.

Schön, was alles an kunterbunten Einfällen über den Bretterboden purzelt. Aus verborgenen Luken im Boden tauchen schräge Vögel auf, es ist zum Lachen, es ist zum Fürchten, und stets wird das Auge mit opulenten Bildern bedient. Die Bodenlosigkeit hat Viktor Bodó als das eigentliche Thema bei Lewis Carroll herausgearbeitet. Dazu gehört, dass alle Kategorien, an die wir uns halten, ihre Gültigkeit verlieren. Von einer Moral ist weit und breit nichts zu sehen. Das hebt das Ganze über einen hübschen, bunten, turbulenten Krawall-Abend hinaus, zumal Angst, Beklemmung, Ungerechtigkeit – der übliche Müll der Gesellschaft, der sich nicht und nicht entsorgen lässt – einen doppelten Boden des Unheimlichen einziehen.

Anleihen bei den großen Göttern

Aus New York kommt die Theatergruppe „Temporary Distortion“, die mit ihrem Stück „Welcome to Nowhere (bullet hole road)“ tief in die Kiste greift, wo amerikanische Mythen abgelagert sind. Auf zwei Ebenen läuft die Darstellung ab: Vorne agieren die Darsteller, die im vollen Bewusstsein, bedeutend sein zu müssen, schwermütig ihren Text abliefern. Darüber läuft ein Videoband, das illustriert, was gerade erzählt wird. Ach was, die Darsteller agieren gar nicht. Zwei Schauspieler und zwei Schauspielerinnen stehen bevorzugt starr im Raum, was ihnen im Kontrast zu den bewegten Bildern die Aura des Geheimnisvollen anheften soll. Wir befinden uns im Reich des Mystischen, wo Lebende und Tote nicht so gut voneinander zu unterscheiden sind. So dräuend, wie alles daherkommt, so schicksalsschwer und wonnetrunken, sind Anleihen bei den großen Göttern David Lynch und Stanley Kubrick nicht zu übersehen.

Nichts Bedeutendes, kann passieren, ist weiter nicht betrüblich. Betrüblich ist jedenfalls, dass bei der Premiere alle Gesetze der Höflichkeit ignoriert wurden. Beim Schlussapplaus gehörte nicht den Schauspielern alle Aufmerksamkeit, sondern einem mediokren Gänschen aus dem Publikum. Die Stripperin Dita von Teese war anwesend, und während sich die Darsteller verbeugten, konzentrierten sich die Scheinwerfer auf die Dame, die Gast der Firma Montblanc war. So rächt sich das Sponsorenwesen in aller Grausamkeit.

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