Nur ja nicht auffallen

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Als vor einigen Jahren in Kobe ein Kind einem anderen den Kopf abschnitt und vorm Schultor aufstellte, ging ein Aufschrei durch die japanische Gesellschaft. Gewalt unter Kindern und Jugendlichen hat bedrohliche Ausmaße angenommen.

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Als vor einigen Jahren in Kobe ein Kind einem anderen den Kopf abschnitt und vorm Schultor aufstellte, ging ein Aufschrei durch die japanische Gesellschaft. Gewalt unter Kindern und Jugendlichen hat bedrohliche Ausmaße angenommen.

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Viel wurde diskutiert über Ursachen und Bekämpfung der Gewalt unter Japans Jugendlichen. Doch getan hat sich wenig. In diesem Frühsommer sorgte neuerlich ein besonders grausamer Fall von ijime für Entsetzen. Diesmal war der Schauplatz eine Mittelschule in Nagoya, das Opfer der 15-jährige Motohiko.

Motohikos Qualen begannen im vergangenen Juni, auf einem Schulausflug. Sein Klassenkamerad Yosuke machte ihn für einen Saftfleck auf seinem Hut verantwortlich und verlangte Geld. Motohiko gab es ihm. Es war der Beginn des bislang größten Erpressungsfalls unter japanischen Schulkindern. Denn schon bald verlangte Yosuke mehr und mehr. Motohiko plünderte zunächst seine eigenen Ersparnisse und begann dann hohe Beträge vom Konto seiner Mutter abzuheben. Als diese dahinterkam, vermutete sie sofort Erpressung. Doch aus Angst vor weiteren Quälereien log Motohiko und sagte, er habe das Geld selbst verprasst. Schließlich ging die Mutter mit ihm zur Polizei. Dort gab der Bub die Namen dreier Kinder bekannt, denen er Geld "geliehen" habe. Die Polizei unternahm nichts. Doch die Täter verprügelten und misshandelten Motohiko, weil er sie verpfiffen habe und erpressten ihn weiter. Motohikos Mutter musste der psychologischen Geiselhaft ihres Sohnes hilflos zusehen, sie gab ihm immer mehr Geld. Die Zahl der Erpresserkinder war mittlerweile auf zehn angewachsen. Das Geld - letztlich 50 Millionen Yen, umgerechnet rund 7 Millionen Schilling - gaben sie für teure Markenartikel, Taxifahrten, in Restaurants, Spielhöllen und Bordellen aus. Zweimal wurde Motohiko spitalsreif geschlagen. Die zweite Hospitalisierung sollte ihm das Leben retten. Denn seine Peiniger waren ihm bis dorthin gefolgt, um noch mehr Geld zu fordern und planten ihn umzubringen, wie sich später herausstellen sollte. Doch im Spitalszimmer lag auch der Sohn eines Yakuza, eines Mafiosi, der Motohiko zu Hilfe kam. Also nahm die Mafia die Sache in die Hand. Nach Besuchen und Drohanrufen bei der Familie von Haupttäter Yosuke gab dieser alles zu. Und Motohiko und seine Mutter erstatteten endlich Anzeige bei der Polizei. Die Erpresser wurden in Jugendstrafanstalten eingewiesen.

Der Fall brachte erneut eine gesellschaftliche Diskussion über das Gewaltproblem an Japans Schulen ins Rollen. Zu ijime, der japanischen Spielart von Mobbing an den Schulen, gehören Opfer, Täter und die schweigende Masse derer, die zusehen, ohne einzugreifen. Die Palette der Quälereien ist vielfältig - einmal ist es ein Name, über den sich die anderen lustig machen, ein anderes Mal sind es wüste Beschimpfungen. Einmal wird einem Kind Müll auf den Tisch gekippt oder Wasser über den Kopf geschüttet. Doch es gibt auch körperliche Gewalt bis hin zum Mord. Dass ijime ein Problem ist, das über spektakuläre Einzelfälle hinausgeht, will niemand leugnen. Das Erziehungsministerium spricht von rund 40.000 Fällen im Jahr. Doch die Dunkelziffer dürfte beträchtlich höher liegen. Dazu kommen 35.000 Fälle von Gewalt an den Schulen.

Die Entwicklung habe vor rund 30 Jahren begonnen, als immer mehr Kinder nicht mehr zur Schule gehen wollten und unter Essstörungen litten, analysiert der Psychiater Maasaki Noda. Die Schulverweigerer - das Erziehungsministerium gibt die Zahl mit 130.000 pro Jahr an - wurden immer öfter gewalttätig gegen ihre Eltern. "Es sind vor allem Jugendliche, die wenig Erfolg in der Schule haben und selbst ijime Opfer waren", sagt Noda. Seit den neunziger Jahren steigt vor allem die Gewalt unter den Kindern - Quälereien bis hin zum Mord. Selbst die vielleicht harmlos klingenden Streiche richten in japanischen Kinderseelen gravierende Schäden an.

Schweigen aus Angst "Auf einen herausstehenden Nagel wird so lange eingeschlagen, bis alle Nägel gleich lang sind", lautet ein japanisches Sprichwort. Japan gilt als homogene, konformistische Gesellschaft, in der es nicht gerne gesehen wird, wenn jemand vom Durchschnitt abweicht, erklärt Psychiater Tsuchiya: "Jeder, der von der Gruppe abweicht, wird ausgestoßen. Ob jemand besonders gute Leistungen erbringt und dafür vom Lehrer gelobt wird oder aber etwas langsamer oder anders ist, als die anderen. Daher strengen sich alle besonders an, ja nicht aufzufallen."

Besonders hart trifft es japanische Kinder, wenn sie von den Klassenkameraden ignoriert werden - eine äußerst beliebte Spielart von ijime. Die Traumata aus diesen Erfahrungen wirkten jahrelang nach, meint der Psychiater. In vielen Fällen sind Eltern und Lehrer überfordert und hilflos. Wenn sie von den Problemen der Kinder erfahren, ist es oft schon zu spät. Denn selten sprechen die Kinder offen über ihre Qualen - weil sie das nie gelernt haben oder aus Angst vor weiteren Repressionen.

Kinderselbstmorde sind keine Seltenheit. In Japan herrsche zum Selbstmord eine ziemlich tolerante Einstellung, sagt Tsuchiya: "Das ist anders als im Katholizismus, wo Selbstmord als Sünde gilt und daher eine viel höhere Hemmschwelle besteht. In Japan ist es leichter, sich durch Selbstmord von Qualen zu befreien."

Einer der Gründe für die Jugendprobleme dürfte der große Druck sein, der auf Japans Kindern von zartem Alter an lastet. Denn um einen attraktiven Job in einer renommierten Firma zu bekommen, ist es notwendig, den Abschluss einer angesehenen Universität vorweisen zu können. Um die schwierige Eintrittsprüfung der Universitäten zu schaffen, müssen die Kinder eine gute Oberschule, zuvor eine gute Mittel- und Grundschule besucht haben.

Die Spirale setzt sich fort bis in den Kindergarten. Private Paukschulen sorgen für die notwendigen Qualifikationen. Freizeit für Hobbys oder individuelle Interessen bleibt so japanischen Kindern kaum. Zusätzliche Unsicherheit entsteht heute durch die hohe Jugendarbeitslosigkeit.

In den japanischen Schulklassen sitzen zumeist 40 Kinder, eine enorme Belastung für Lehrer und Schüler gleichermaßen. Und die Ausbildung selbst lasse den Kindern kaum Freiraum für ihre persönliche Entwicklung, meint der britische Erziehungswissenschaftler Robert Aspinall von der Universität Nagoya: "Alle bekommen die selbe Ausbildung, egal welche individuellen Interessen oder Fähigkeiten sie haben. Im Westen gehen wir davon aus, dass manche Schüler besser oder schneller sind als andere. In Japan muss hingegen die ganze Klasse die gleichen Fortschritte machen."

Im Jahr 2002 sollen an Kindergärten, Grund und Mittelschulen neue Lehrpläne in Kraft treten. Mit dieser Reform soll ein Erziehungssystem implementiert werden, das mehr Rücksicht auf die individuellen Fähigkeiten der Kinder legt und den Kindern mehr Freizeit lässt. Interessanterweise kommt heute der größte Druck nach einer Änderung des Schulsystems aus dem Unternehmensbereich: dort hat man erkannt, dass die globalisierten Wirtschaft nicht mehr nach angepassten, uniformen Arbeitskräften verlangt, sondern nach kreativen, individuell denkenden und flexiblen ...

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