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Warum wir JJ er Apfel süß?

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Weil wir ihn so gezüchtet haben? Aber wilde Früchte werden ja auch süß zur Zeit der Reife. Was ist Reife? Wenn das Saure süß wird, wenn das Individuum sich fortpflanzen kann. Doch was ist eine Frucht? Schutzhülle, Mitgestalterin und endlich Nahrung für den Kern. Die Frucht ist die Mutter des Kerns. Das Insekt legt seine Eier in eine Frucht, es schafft sich instinktiv ein Fruchtfleisch für seinen ,,Kern". Die Frucht ist aber für den Apfelbaum auch noch ein Mittel zur Fortbewegung: entweder durch ihre Schwere — sie fällt zu Boden und bildet verwesend die günstigste Nahrung und Muttererde für den Kern: oder durch ihre Süße — sie lädt Vögel zum Essen ein und bewirkt dadurch eine weite Reise des Kerns, der ja fast'stets als unverdaulich ausgeschieden wird, und damit eine gedüngte Erde vorfindet. Also ist die Frucht zuerst Nährerin, dann Transportmittel des Kernes.

Damit aber sind wir dem Geheimnis der Süße kaum nähergekommen. ,.Der Apfel ist süß, damit er gegessen wird“ — auch deshalb, doch nicht nur deshalb! Denn man muß die Süße in ihrem Reichtum fassen. Chemisch betrachtet, bildet sich der nahrhafte Zucker. Physiologisch betrachtet ist Fruchtsüße das Zeichen des Abschiedes, der Trennung vom Baum, des Hin- stürzens in das Abenteuer einer neuen Baumgründung. Doch ist es ja nicht die Süße allein, sondern das ganze Aroma — und von diesem gibt der Duft Kunde. Parfüm wird Essenz genannt, das heißt Wesen, weil der blinde Geruchssinn der Sinn der Erinnerung ist, da er in der Phantasie das ganze Wesen hervorzaubert — und auch Schmecken ist in Wirklichkeit tastendes, zermalmendes Riechen. Dieser Apfelduft, flüchtig mit allen Winden, ist ebenfalls ein Transportmittel des Kernes, indem er ihn überallhin annonciert — er lädt zum Kosten ein. Zweimal duftet der Baum: als Blüte für die Bestäubung, als Frucht für den Kerntransport. Pflanzen duften, weil sie nicht gehen können.

Schneidet man den Apfel vom Stiel mittendurch, so sieht man, daß er ein raffiniertes Parfümlaboratorium ist, wo sich die destillierten Duftpartikeln des Fruchtfleisches im innersten Hohlraum vor den Kernzellen sammeln. Dann werden sie durch feinste Kapillarröhrchen in die „Mundöffnung“ des Apfels getrieben und in die weite Welt ausgehaucht. Das aufgebrochene Apfelfleisch dagegen duftet anders und ein wenig gröber. Der Liebesduft der Pflanzen soll alle ein- laden und ist darum lieblich, jener der Tiere aber nur die eigene Art: er ist darum für die andern meist keineswegs lieblich.

Unser Verstand sträubt sich dagegen, die schöne Süße des Apfels auf bloße Nützlichkeit wie Fortbewegung oder Fortpflanzung zurückzuführen. Und zwar, weil unser Verstand Nutzen von Ausdruck trennt. Aber die Natur trennt Nutzen von Ausdruck nicht, denn ihr sind sie nur zwei Seiten von ein und demselben: vom Existieren. Man blicke auf einen Frühlingsbaum, wie da die köstliche Blütenrosette oft unmittelbar aus der Zweigrinde hervorbricht — geschieht das alles um der Fortpflanzung willen? Fortpflanzung ist Weitergabe des Lebens, es geht um Sein oder Nichtsein — es geht aber auch um den Sinn der Existenz! Fortpflanzung ist eine Brücke über den Abgrund des Nichts: der Todesfluß wird immer wieder vom Inbegriff des Lebens überquert. In dieser Spannung von Angst und Glück wird die Existenz auf ihren Höhepunkt getrieben. Derselbe Baum, der noch im Jännernebel vor sich hin vegetierte, bricht in einen Blütenüberschwang des Entzückens aus und steht da wie eine Braut im Schleier. Blüht der Baum, um sich fortzupflanzen, oder pflanzt er sich fort, um zu blühen? Schlägt die Nachtigall, Um Eier zu legen, oder legt sie Eier, urr- schlagen zu können? Fortpflanzung — der Sinn der Liebe? Wie öde. Ihr Sinnbild! Wie tief. Fortpflanzung ist darum mit Liebe so unauflöslich verbunden, weil Liebe das Dauernde im Schöpfungsplan ist; und das Symbol dieser Dauer ist immer wieder das Hinüber- ' reichen des Lebens über den Ąbgrund des Todes. Die Blüte ist Ausdruck der Sehnsucht nach dem anderen, nach dem Du — denn nur das Du erregt Liebe, nur das Du gibt Dauer Isoliert, also unsymbolisch betrachtet, hat Fortpflanzung mit dieser Schönheit der Liebe überhaupt nichts zu tun. Das Fischweibchen würde sich vom Männchen genau so befruchten lassen, wenn dieses auch häßlich wäre wie die Nacht, statt das rosasilberne Flossenwunder zu sein, das es ist. Ich, Du, und das daraus entstehende Es — das ist die Dreifaltigkeit der Natur, auf der alles Leben beruht. Denn alle Schöpfung ist Sinnbild dessen,

der sie geschaffen hat.

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Der Apfel wird süß, wenn sein Kern fortpflanzungsfähig wird; wenn er sich anschickt, ade zu sagen. Diese Süße erfüllt eine Menge Zwecke, welche alle dem Baume dienen, ist jedoch, darüber hinaus, vollendet zwecklos, genau so wie die Pracht der Blüte. Sie ist Vollendung und hat ihren letzten Sinn nicht auf das Mitgeschöpf, sondern auf den Schöpfer gerichtet. Denn Er sieht noch immer, daß alles sehr gut ist. Das ist der Sinn der Süße.

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