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Ideologisierte Katastrophe, aber kein Prestigegewinn
Als im Vorjahr in China die Erde bebte, nahmen die Machthaber die Gelegenheit wahr, um die Vorzüge, die Erfolgsträchtigkeit ihres Systems unter Beweis zu stellen. Ohne ausländische Hilfe meisterte das chinesische Volk die unermeßlichen Schäden.
Das Erdbeben in Rumänien hat zu ähnlichen Versuchen geführt: auch Staats- und Parteichef Nicolae Ceau- sescu lehnte Hilfe aus dem Ausland ab. Doch die Rechnung, Eigenhilfe ist gleich Prestigegewinn, ging nicht auf, und nach dem Import von Schweizer Lawinensuchhunden hat das Ringen um Unterstützung in gigantischem Umfang begonnen. Auch die Unternehmer auf der Wiener Frühjahrsmesse haben davon etwas zu spüren bekommen.
Ansonsten jedoch läßt Ceausescu auch aus dieser größten Katastrophe, die sein Land je heimgesucht hat, Vorteile für seine Regierung erwachsen. Menschen, die in Trauerkleidung zu
Hunderten, ja zu Tausenden umherziehen, um nächste Anverwandte oder Freunde zu identifizieren, Menschen, die eher durch die geborstene Wand in ihre Wohnung eintreten können, als durch die in Trümmer gegangene Tür- solche Menschen haben wenig Lust, über Dissidentenprobleme zu diskutieren, wie sie in Rumänien vor wenigen Wochen aufgetaucht sind.
Die Intellektuellen, die Schriftsteller, die Künstler, schon seit längerem im Abseits des öffentlichen Interesses- auch sie stehen unter schwerem Schock und man erwartet kaum, daß sie unter diesen Umständen ihre Stimmen wieder erheben werden. Sind doch viele von ihnen bei einem gemeinsamen geselligen Beisammensein unter die Trümmer geraten - sie ruhen in einem gemeinsamen Grab nahe dem Schriftstellerheim Mogo- soaia.
Ceausescu ist im ganzen Land unterwegs, spricht vor Arbeitern, Bauern und auf Gemeindeversammlungen.
In der deutschsprachigen Zeitung „Neuer Weg” sieht das folgendermaßen aus (Ausgabe vom 8. März): „Hunderte von Menschen legten für einige Augenblicke die Arbeit nieder- ihre von Müdigkeit und Anstrengung gezeichneten Gesichter entspannten sich. Genosse Nicolae Ceausescu begab sich in ihre Mitte, wo er von der Hochachtung und tiefempfundenen Dankbarkeit der Werktätigen umgeben wurde. Sind Sie einverstanden, daß wir die Stadtmitte abreißen und ein neues, viel schöneres Zentrum bauen, das des Sozialismus würdigist? Einstimmig antworteten die Menschen: Ja, Genosse Ceausescu”.
Dazu der unvermeidliche rote Teppich, über den Ceausescu auch bei diesen Anlässen schreitet: der Tröster und Retter, aber auch der Richter und Vollstrecker. Es erweist sich, daß das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, und zwar nach einer großräumigen, unerhört stark verankert ist. Gerechtigkeit nicht nur beim Versuch, den Menschen beim Aufbau einer neuen Existenz unter die Arme zu greifen - nein, Gerechtigkeit in einem geradezu kosmischen Sinn. Das unermeßliche Leid, das über das Land gekommen ist, darf nicht ohne Rächer bleiben. Die Frage der Schuld am nicht mehr wägbaren Unglück muß geklärt werden - eine in diesem Fall völlig absurde Vorstellung, die aber doch an der Basis von Ceausescus Maßnahmenkatalog zu vermuten ich mir erlaube. Warum sonst hätte er angesichts der elementaren Zerstörungskräfte als erste Reaktion die Versicherung ausgesprochen, die Schuldigen würden bestraft werden? Wie kann bei einer gigantischen Naturkatastrophe noch von Schuld die Rede sein? Schuld der Architekten, Gerechtigkeit aber auch, weü die „kapitalistischen” (im Klartext: die vor 1945 gebauten und daher besonders anfälligen) Gebäude starker in Mitleidenschaft gezogen wurden als die sozialistischen Neubauten?
Die Gerechtigkeit geriet ins Wanken- Ceausescu ist es, der sie wieder aufrichtet.
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