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Wann sind Kinder schulreif?

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Jedes Jahr werden in Österreich durchschnittlich fünf Prozent aller Schulanfänger zurückgestellt. Der Grund ist mangelnde Schulreife. Das heißt, daß heuer die Eltern von rund 5000 Sechsjährigen damit rechnen müssen, daß ihr Kind spätestens bis Weihnachten — den Termin, zu dem alle Fälle um Zurückstellung entschieden sein müssen — nicht mehr in die Schule geht

In Wien werden es prozentuell etwas mehr Kinder als in den Bundesländern sein, die wegen mangelnder Schulreife wieder ihre Klasse verlassen müssen. Denn in der Bundeshauptstadt ist das System der Vorschulklassen mit derzeit rund 90 solcher Klassen gut ausgebaut — in den Ländern dagegen nicht. Und wo es keine Vorschulklassen gibt — die ja primär dazu geschaffen wurden, um die zurückgestellten Kinder bis zum Zeitpunkt ihres Schuleintrittes pädagogisch zu betreuen — dort müßten die noch nicht schulreifen Sechsjährigen das Jahr bis zum nächsten September ohne Förderung verbringen Da sich aber fehlende Förderung gerade bei Sechs- bis Siebenjährigen verheerend auswirken kann, ist man in den Bundesländern eher geneigt, Kinder, deren Schulreife „fraglich“ erscheint, im Klassenverband zu belassen und nicht zurückzustellen.

Was ist nun diese Schulreife? Nachdem der Begriff in den dreißiger Jahren aktuell geworden ist, haben sich in den letzten Jahrzehnten stürmische Debatten um ihn entwickelt, ist er zum Gegenstand großer pädagogischer Hoffnungen geworden, hat man eigene Tests entwickelt, an die wieder große Hoffnungen geknüpft worden sind — und doch weiß man bis heute eigentlich nicht so recht, wie man die „Schulreife“ einordnen soll, was sie aussagt und welche Prognosen man mit ihrer Feststellung treffen kann. Voraussagen auf den späteren Schulerfolg sicherlich nicht, denn die Messung der Schulreife stellt keine Feststellung aller Voraussetzungen dar, die für einen Schulerfolg nötig sind.

Der Wiener Psychologe Univ.-Doz. Dr. Erich Löschenkohl hat nun in einer wissenschaftlichen Arbeit („Über den prognostischen Wert von Schulreifetests“) alle Fakten zusammengetragen, die in der Literatur der letzten Jahrzehnte zu diesem Thema erarbeitet worden sind. Er hat aber auch die wichtigsten dieser Arbeiten neu berechnet, hat neue, bisher kaum beachtete Faktoren eingeführt und ist zu Schlüssen gekommen, die nüchterne Grundlagen zum Thema „Schulreife“ darstellen. Es sind aber auch Schlüsse, die nicht nur Pädagogen und sonstigen Experten zu denken geben werden, sondern auch Eltern.

Die wichtigsten Folgerungen in Doz. Löschenkohls Studie:

•Die in den fünfziger Jahren aufgekommene Theorie, man müsse bei den mit sechs Jahren noch nicht schulreifen Kindern einfach die Reife abwarten (eine Art „Nachreife“ einsetzen lassen) und das Kind würde dann genauso schnell und gut weiterlernen wie alle anderen, stimmt nicht.

•Über 60 Prozent der Zurückgestellten sind auch nach einem Jahr noch nicht schulreif.

•Je älter ein Kind bei Zurückstellung ist, desto schlechter schneidet es später in der Schule ab.

•Die soziale Herkunft steht an vierter Stelle aller Faktoren, die auf den Schulerfolg Einfluß haben — je höher die Sozialschicht, desto besser der Schulerfolg.

•Von allen möglichen Familiensituationen, in denen ein Kind leben kann, wirkt sich die des „Stiefkindes“ am negativsten auf den Schulerfolg aus.

•Der Besuch eines Kindergartens steigert die Schulreife und die Schulleistung in den ersten beiden Jahren.

•Der Besuch eines Schulkindergartens (das entspricht etwa einer Vor-sthulklasse) hilft nur den normal begabten, nicht aber den minderentwicklungsfähigen, debilen oder schwachsinnigen Kindern.

•Aus diesem Grund müßten alle Zurückgebliebenen einer Differentialdiagnose unterzogen werden, in der abgeklärt werden kann, worauf die fehlende Schulreife beruht.

Das bedeutet, daß die zurückgestellten Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit einen organischen oder psychischen Fehler haben als normal eingeschulte. Allerdings macht sich auch hier ein starker Einfluß der sozialen Herkunft bemerkbar. Die Theorie, daß Ober- und Mittel-scbichtkinder zu Hause eine bessere Entwicklungsförderung erhalten als Unterschichtkinder, bestätigt sich in nackten Zahlen: Bei den nicht schulreifen Kindern aus der Oberschicht finden sich zu 62 Prozent Hirnschäden, also Ursachen, gegen die die Erziehung kausal nichts machen kann.Aber nur bei 20 Prozent der zurückgestellten Unterschichtkinder sind Hirnschäden die Ursache der fehlenden Schulreife.

„Alle von mir erhobenen Fakten laufen auf eines hinaus: Sowohl für die Schulreife als auch für die Leistung in der Schule sind neben den bekannten Faktoren wie Intelligenz, körperliche Entwicklung und Alter noch andere Faktoren wichtig, die zum großen Teil noch gar nicht bekannt oder erfaßbar sind“, erläuterte Doz. Löschenkohl. „Diese Faktoren kann man unter dem Begriff ,Sozia-lisation' zusammenfassen. Darunter versteht man den Prozeß der Einordnung eines Menschen in eine Gemeinschaft und die Summe der Einflußgrößen, die dabei eine Rolle spielen.“

Bis vor rund zwei Jahren war die Sozialisation von der Schulpsychologie, vor allem von den mit der Ausarbeitung und Anwendung von Tests befaßten Psychologen kaum beachtet worden. „Erst vor kurzem ist das Schlagwort von der .ökologischen Psychologie' aufgekommen“, ergänzt Doz. Löschenkohl, „von einer Psychologie, die auch das soziale Umfeld in jeder Beziehung berücksichtigt, also nicht nur das Elternhaus, sondern auch etwa die ökonomische Struktur eines Heimatortes und die Situation in der Schule — die Lehrer sind einer der größten Unsicherheitsf aktoren bei Vorhersagen über den Schulerfolg von Kindern.“

Die Aussagekraft der Schulreife-Tests kann also durch alle von dem Wissenschafter zusammengefaßten und ergänzten Forschungsergebnisse auf das ihr zukommende Maß reduziert werden: Daß sie nur ein kleines Rädchen in der Maschinerie erfassen können, die zum Schulerfolg führt, nur eine Zwischenstation, von der allein aus nur sehr begrenzte Prognosen möglich sind.

Allerdings — so zeigt der interdisziplinäre Vergleich mit anderen Wissenschaften und deren Ergebnissen — kann die Schulreife eine entscheidende Zwischenstation sein. Ihre Säulen und die des teilweise mit ihr gekoppelten Schulerfolgs ruhen unter Umständen schon in der ganz frühen Kindheit. So wurde etwa bekannt, daß äußere Streßeinwirkungen während der Schwangerschaft in einem statistisch gesicherten Zusammenhang mit dem Schulerfolg zu bringen sind. Die Mütter von schlechten Schülern hatten in der Schwangerschaft überdurchschnittlich viele Streßsituationen durchzustehen.

Das gleiche Verhältnis zeigt sich zwischen der Häufigkeit von Geburtskomplikationen und dem Schulerfolg: Bei 42 Prozent der schlechten Schüler konnten solche Komplikationen während der Geburt nachgewiesen werden, aber nur bei 22 Prozent der guten Schüler.

Kinder, die vom Versagen in der Schule bedroht sind, haben im ersten Lebensjahr häufiger schwere Krankheiten aufzuweisen als die guten Schüler. Diese Krankheitshäufigkeit wieder steht in direktem Zusammenhang mit der Stilldauer. Je länger Säuglinge an der Mutterbrust gestillt werden, desto seltener erkranken sie im ersten Lebensjahr.

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