Kein Generalangriff auf Römisches Reich
Den Philipperbrief verfasste der Apostel Paulus im Gefängnis. Diese Tatsache sollte bei der Interpretation des neutestamentlichen Schreibens im Blick bleiben.
Den Philipperbrief verfasste der Apostel Paulus im Gefängnis. Diese Tatsache sollte bei der Interpretation des neutestamentlichen Schreibens im Blick bleiben.
Der Philipperbrief des Apostels Paulus wirft viele Fragen auf -für einige davon können Lösungen bei Berücksichtigung der persönlichen Situation des Apostels und bei sorgfältiger Untersuchung der Sprache vorgeschlagen werden. Paulus schrieb diesen Brief gegen Ende seines Lebens in der Gefangenschaft (Phil 1,7). Er schreibt Gemeinde als Antwort auf Gaben und erwähnt dabei, dass er eine baldige Entscheidung erwarte; sowohl Freispruch wie Tod hält er für möglich (Phil 1,19-24). Er hofft jedoch auf einen guten Ausgang (Phil 1,25). Ein zentraler Gedanke des Paulus findet sich nun in der Mitte des Briefes.
Dort (Phil 3,20) heißt es, wenn man der Einheitsübersetzung folgt - die gewählte Übersetzung ist zu erwähnen, da Paulus hier ein seltenes Wort gebraucht, das uns nur an dieser Stelle im Neuen Testament begegnet: "Unsere Heimat ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter." Von zahlreichen Auslegern der Stelle wird angenommen, dass Paulus hier einen Gegensatz zwischen irdischem Staat, dem die Bürger Roms angehören, und himmlischem Staat konstruiere, diesem seien dann die Christen zuzurechnen.
Dann würde hier der Gegensatz von irdischer und himmlischer Bürgerschaft vorweggenommen, ein Lebensentwurf würde beschrieben, der schlechterdings nicht mit dem irdischen Leben im Römischen Reich vereinbar ist. Paulus hinterlässt hier, so scheint es, sein politisches Testament, er kämpft aus dem Gefängnis heraus um ein reines und sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzendes Christentum. Ein Gegensatz zwischen Staat und Christentum wird beschrieben, Christen, so scheint es, sind für Paulus nicht in das Römische Reich integrierbar.
Gegensatz Staat - Christentum?
Aber, tut er das wirklich? Es muss noch einmal die Situation des Paulus ins Gedächtnis gerufen werden. Paulus ist im Gefängnis, und antike Gefängnisse waren höchst ungemütliche Orte. Da gab es keinen Komfort, bereits der Aufenthalt in Gefängnissen konnte aufgrund der hygienischen Zustände und der "Fürsorge" der Wärter tödlich enden. Wer in der Antike im Gefängnis war, verlor jede Privatsphäre. Menschenrechte waren unbekannt. Paulus schrieb nicht eine kurze Mitteilung, hastig und verstohlen auf einen Stofffetzen gekritzelt, sondern einen ausführlichen und langen Brief. Die Papyrusblätter mussten ebenso besorgt werden wie Tinte und Schreibgerät.
Mehrere Stunden wird er mindestens an diesem Brief geschrieben haben, wenn er nicht zuerst ein Konzept entworfen und dies dann ausformuliert hat. Es konnte der Umgebung keinesfalls verborgen bleiben, dass Paulus einen Brief verfasste. Und damit wird die Gefängnisleitung mit großer Wahrscheinlichkeit diesen Brief gelesen haben -und wenn sie es nicht getan haben sollte, was jedoch höchst unwahrscheinlich wäre, dann hätte Paulus damit rechnen müssen, dass dieser Brief auch von denen gelesen wird, die über seine Freiheit oder den Verlust seines Lebens entscheiden. Falls man also ernst nimmt, dass Paulus darauf hofft, dass er bald aus dem Gefängnis in die Freiheit entlassen wird, dann ist bei der üblichen Interpretation von Phil 3,20 davon auszugehen, dass Paulus schlicht und ergreifend völlig unbedarft und realitätsfern war. Die Unvereinbarkeit von Christentum und römischem Staat würde einem Generalangriff auf das Römische Reich gleichkommen, und dann zu erwarten, dass er als Revolutionär rasch die Freiheit erlangt, ist doch reichlich unbedarft.
Und damit ist die Frage zu stellen, ob Paulus hier nicht etwas höchst Interessantes macht, was auch viel besser zu dem gewieften Taktiker passt, als der er in der Apostelgeschichte gezeichnet wird. Dort gelingt es Paulus, die gegen ihn erhobene Anklage als innerjüdische Streitigkeit um die Auferstehung erscheinen zu lassen, Pharisäer nehmen den "Pharisäer" Paulus gegen Sadduzäer in Schutz, die nicht an die Auferstehung glauben, es kommt zu einem Handgemenge und Paulus wird mit Waffengewalt aus den streitenden jüdischen Gruppierungen herausgeholt (Apg 23,7-10).
Es besteht nun eine auffällige Parallele zwischen der Argumentation des Paulus in der Apostelgeschichte und im Philipperbrief: Nach der Apostelgeschichte sagt Paulus, dass er "Pharisäer" sei (Apg 23,6). Im Philipperbrief formuliert er noch detaillierter (Phil 3,5):"Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, en Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach dem Gesetz " Die Erwähnung der Beschneidung ist fast schon die Aufforderung an die Wachen, doch nachzuschauen, ob Paulus tatsächlich ein Jude ist - eine in der Antike durchaus übliche Art, wie man die jüdische Identität eines Mannes feststellen konnte.
Tradition des jüdischen Gesetzes
Damit macht Paulus hier, so scheint es, das, was er auch nach der Erzählung der Apostelgeschichte vor dem Hohen Rat tat: er erweckt für die Zensoren den Eindruck, er sei Jude. Für die Adressaten in Philippi jedoch sagt er etwas völlig anderes (Phil 3,2-3): "Gebt acht auf diese Hunde, gebt acht auf die falschen Lehrer, gebt acht auf die Verschnittenen. Denn die Beschnittenen sind wir, die wir im Geist Gottes dienen und uns in Christus Jesus rühmen und nicht auf irdische Vorzüge vertrauen."
Der Unterschied zwischen wahrer "Beschneidung" und "Verschneidung" ist natürlich einem Leser, der die Lehre des Paulus kennt, völlig eingängig. Aus Sicht des Paulus gibt es "weder Juden noch Griechen"(Gal 3,28), und damit ist die wahre Beschneidung die "Beschneidung der Herzen".
Paulus schafft es also, sich für die Aufseher des Gefängnisses als Jude darzustellen, während er den Lesern in Philippi eine ganz andere Botschaft mitgibt: Es kommt auf die "wahre" Beschneidung, auf Frömmigkeit und untadeliges Leben an. Und damit ist auch die Frage nach der Funktion von Phil 3,20 neu zu stellen: Es ist wohl nicht ein Generalangriff auf das Römische Reich, sondern vielmehr die Aussage, dass die christliche Existenz und das christliche Gemeindeleben "ihren Ursprung im Himmel" hätten. Auch das Judentum kennt ein göttliches Gesetz, und nur wenn dieses mit dem weltlichen Gesetz in direkten Konflikt kommt, gibt es Probleme. Und in dieser Tradition steht auch Paulus.
Der Autor leitet zwei Forschungsprojekte (FWF) zum Neuen Testament und seiner handschriftlichen Überlieferung