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Stifter ist neu zu lesen

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Die bekannten Urteile von Hebbel über Stifter, der als „überschätztes Diminuitlv-Talent” bezeichnet wird, und von Georg Lukacz, der Stifter einen „Klassiker der Reaktion” nennt, sind Schulbeispiele dafür, daß auch kluge Leute etwas recht Dummes sagen können, wenn sie über etwas ihnen Wesensfremdes sprechen. Thomas Mann hingegen schrieb über Stifter, er sei der merkwürdigste, hintergründigste, menschlich kühnste und wunderlich pak- kendste Erzähler der Weltliteratur, der von der Kritik zuwenig ergründet sei. Und wer Thomas Manns große mehrbändige Romane kennt, von den „Buddenbrooks” über den „Zauberberg” bis zur „Joseph- Tetralogie”, der wird ihn auch nicht mißverstehen, vielmehr wird er das Lob heraushören, wenn Thomas Mann sagt, daß er den „merkwürdigen Schuilrat” für einen der größten und ermutigendsten Ehrenretter der Langeweile halte, und es sei für den Erzähler, der selbst ein Freund breit-deskriptiver Epik ist, eine aufregende Erfahrung, zu wissen, „welches Maß von Langweiligkeit unter Umständen möglich ist”.

Mit dem Problem „Literatur und Langeweile” beschäftigt sich eine der 15 Studien (exemplifiziert an Stifters Erzählung „Bergkristall”, die ursprünglich „Der heilige Abend” hieß) in dem von dem Heidelberger Verleger Lothar Stiehm zusammengestellten und herausgegebenen stattlichen Band. Das in jeder Hinsicht gewichtige, aber gut lesbare Buch stellt die schönsten und interessantesten Würdigungen Stifters anläßlich seines 100. Geburtstages zusammen und knüpft bewußt an das zu Stifters 60. Todestag erschienene Gedenkbuch in einem Wiener Verlag an, das Hofmannsthal mit einer berühmt gewordenen Vorrede ėingeiėltet hatte. „Kein erbaulich- bekeÄfttiiishaftes, sonäferft efta nüchtern-sachliches Ruch” wollte der Verleger vorlegen. Aber ės ist trotzdem zu einem imposanten Stifter- Denkmal geworden, zusammengesetzt aus 15 Bauelementen von der Hand der kompetentesten, in der ganzen Welt verstreuten Stifter- Forscher der Gegenwart. (Bezeich nend, daß ein Drittel der Beiträge aus dem angelsächsisch-amerikanischen Raum kommt.)

Emil Staiger erläutert am Beispiel Stifters „Reiz und Maß”, Kurt Mautz schreibt über das antagonistische Naturbild in Stifters „Studien”, Josef. Peter Stern über Stifters ontologischen Stil, Gerhart Baumann stellt Stifter als den Dichter der Zuversicht dar, Robert Mühlher widmet seine Studie dem Bild der Gartenlaube, Herbert Seidler erläutert Gestaltung und Sinn des Raumes im „Nachsommer”, Richard Exner hat alle auf Stifter bezüglichen Stellen im Werk Hofmannsthals zusammengestellt, Roy Pascal, Eric A. Black- ha.11, Franz H. , Mautner, Paul Requardt, Hermann Kunisch und Joachim Müller haben Studien zu einzelnen Werken Stifters verfaßt, Peter Küpper ist der Autor der bereits erwähnten Abhandlung über Literatur und Langeweile, Joachim W. Storck untersucht die Beziehungen zwischen Stifter und Rilke und faßte während der Arbeit an diesem Beitrag den Plan zu einem ganzen Buch, dessen Erscheinen der Lothar- Stiehm-Verlag ankündigt.

In summa: Von immer neuen Blickpunkten aus wird das Werk Stifters betrachtet und aus dem Dilemma zwischen Polemik und ikonographi- scher Erstarrung herausgehoben. Nach all den hier aufgezeigten Perspektiven und Kriterien ist Stiftet neu zu lesen. Dies ist wohl das Positivste, was man über ein wissenschaftliches Sammelwerk sagen kann. Daß es erschienen ist, erfüllt alle Stifter-Freunde mit Dankbarkeit, der freilich auch ein wenig Bedauern darüber beigemischt sein maig, daß dieses Werk nicht in Österreich erschienen ist. Verlag und Verleger haben mit diesem schön ausgestatteten Buch, dem auch vier Reproduktionen aus derli Hand- sthtfiftenkomplex des. Kalkstein” beigegeben sind’, die Helmut Berg- ner erläutert, sich selbst ein Denkmal gesetzt.

ADALBERT STIFTER. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Lothar-Stiehm-Ver- lag, Heidelberg. 351 Seiten. DM 44.—.

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