"Ohne uns gäbe es heute keine Indianer mehr"

19451960198020002020

Nicht um die Feier von 500 Jahre Christianisierung Brasiliens geht es Dom Erwin Kräutler: Er plädiert für eine Gewissenserforschung. Der austrobrasilianische Bischof, der auf Einladung von "Dreikönigsaktion" und "Missio" in Österreich war, äußert sich im furche-Gespräch vorsichtig optimistisch, was die Lage der Indianer betrifft. Er bewertet die Rolle der evangelikalen Freikirchen im Land und nimmt zum persönlichen Risiko seiner Arbeit Stellung.

19451960198020002020

Nicht um die Feier von 500 Jahre Christianisierung Brasiliens geht es Dom Erwin Kräutler: Er plädiert für eine Gewissenserforschung. Der austrobrasilianische Bischof, der auf Einladung von "Dreikönigsaktion" und "Missio" in Österreich war, äußert sich im furche-Gespräch vorsichtig optimistisch, was die Lage der Indianer betrifft. Er bewertet die Rolle der evangelikalen Freikirchen im Land und nimmt zum persönlichen Risiko seiner Arbeit Stellung.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Furche: Brasilien feiert "500 Jahre". Hat das Land etwas zu feiern?

Dom Erwin Kräutler: Das, was es in Brasilien zu feiern gibt, ist das Evangelium: Wenn es gelungen ist, im Laufe der 500 Jahre die Liebe Gottes den Menschen mitzuteilen, dann haben wir einen Grund zu feiern. Es ist vielfach gelungen, manchmal aber auch nicht: Dieses Jahr sollte ein Bedenkjahr, in dem wir Gott danken für das Gute, das in den 500 Jahren geschehen ist, in dem wir aber auch gemeinsam das Gewissen erforschen. Es geht hier nicht darum, Steine auf die Missionare der Vergangenheit zu werfen, aber wir müssen den Mut haben, zuzugeben, dass Kulturen einfach verschwunden sind.

Die Furche: Bei den 500-Jahrfeiern gab es Proteste von Indianern. Bilder davon gingen um die Welt.

Kräutler: Es war symbolhaft, dass gerade die Bilder um die Welt gingen, auf denen ein Indianer flehend vor der Militärpolizei um Frieden bittet. Die Indianer waren zur 500-Jahrfeier nicht zugelassen. Dort hat die Elite gefeiert. Indianer, Afrobrasilianer und Landlose haben einen friedlichen Marsch organisiert - ihre einzigen "Waffen" waren Spruchbänder und T-Shirts auf denen "Andere 500" draufstand ...

Die Furche: ... womit gemeint war: Die nächsten 500 Jahre sollen anders sein. Hat sich für die Indianer Brasiliens in letzter Zeit die Situation verändert?

Kräutler: Stark. Vor wenigen Jahrzehnten hat sich ein Indianer geschämt, Indianer zu sein. Er war ein Mensch zweiter Kategorie. Heute ist er stolz, Indianer zu sein. Ein zweiter Unterschied: Früher wollten wir etwas "für die Indianer" tun. Die Indianer waren das Objekt unseres pastoralen Einsatzes und Wohlwollens. Heute denken wir ganz anders: Der Indianer ist Subjekt seiner eigenen Geschichte, er hat die Feder in der Hand, wir sind neben ihm, mit ihm, für ihn - aber er ist derjenige, der bestimmt, der sich einbringt. Ein Erfolgserlebnis war, dass es gelungen ist, die Indianerrechte in der Verfassung zu verankern: das Recht auf ihr angestammtes Gebiet, auf ihre Sprache, auf ihre kulturellen Ausdrucksformen und auf die Naturreichtümer ihres Gebietes.

Die Furche: Und die Wirtschaftsinteressen an den Indianergebieten?

Kräutler: Wenn etwas in der Verfassung steht, bedeutet es nicht, dass sofort etwas geschieht. Aber - und das war auch der Grund der Indianerproteste bei den 500-Jahrfeiern - man kann jetzt sagen: Wenn den Indianern diese Rechte vorenthalten werden, ist das Verfassungsbruch. Das ist etwas anderes, als im Namen anonymer Menschenrechte für die Indianer einzutreten.

Die Furche: Im Amazonasgebiet, wo auch Ihre Diözese liegt, wird der Regenwald vernichtet, ...

Kräutler: ... und das geht weiter. Anfang Mai haben die brasilianischen Bischöfe einen Hirtenbrief zur 500-Jahrfeier veröffentlicht; dort steht auch, dass es unter diesen Umständen in 25 Jahren im Amazonasgebiet keinen Regenwald mehr geben wird.

Die Furche: Wie können Sie dann sagen, den Indianern gehe es viel besser?

Kräutler: Man hat das Land der Indianer abgegrenzt - immerhin: Wenn der Urwald lebt, dann hat der Indianer eine Chance zu überleben. Stirbt der Urwald, stirbt auch der Indianer.

Die Furche: Vor 20 Jahren meinte man, bald würden die Indianer (aus)sterben.

Kräutler: Das hat man mir auch gesagt. Aber wenn die kirchlichen Einrichtungen - der Indianermissionsrat der Bischofskonferenz, dessen Präsident ich 1983-91 war, zusammen mit den traditionellen protestantischen Kirchen und anderen humanitären Organisationen - nicht gewesen wären, gäbe es heute keine Indianer mehr. Wir können auch als katholische Kirche für uns verbuchen, dass wir uns sehr eingesetzt haben: Die ganze Bischofskonferenz stand dahinter!

Die Furche: Das gilt auch für die gegenwärtige Bischofskonferenz?

Kräutler: Natürlich. Gerade in unserem letzten Hirtenbrief wurde das wieder bekräftigt.

Die Furche: Es hat in den letzten 15 Jahren große Veränderungen in der Bischofskonferenz gegeben. Von der politischen Ausrichtung dabei würde man erwarten, dass weniger Bischöfe sich an diesem Engagement beteiligen.

Kräutler: Wenn auch die 360-köpfige Bischofskonferenz sehr vielfältig in ihren Ansichten ist, ist es gelungen, den Hirtenbrief zur 500-Jahrfeier, der in der Indianerfrage sehr klar ist, mit bloß einer Gegenstimme zu verabschieden.

Die Furche: Sie arbeiten mit den "traditionellen protestantischen Kirchen" zusammen. Wie ist das Verhältnis zu den - starken - evangelikalen Freikirchen?

Kräutler: Es gibt private Kontakte oder bei bestimmten Gelegenheiten: In Altamira, meinem Bischofssitz, wurde ein Mädchen umgebracht. Wir haben gegen die Unsicherheit und gegen die Abscheulichkeit des Verbrechens protestiert. Beim Begräbnis habe ich den Sarg auf der einen und der freikirchliche Pastor auf der anderen Seite getragen. Aber wenn ich sage, wir müssen gemeinsam etwas tun, dann haben diese Gruppen Angst, dass man über ihre Schäfchen herfällt. Wenn sie selbst dann zu Wort kommen, ist es sehr proselytistisch, wie sie sich da geben. Diese Kirchen sagen ganz klar: Wir sind nicht für die Ökumene. Da wird es schwierig.

Die Furche: Sind die Evangelikalen eine Bedrohung für die katholische Kirche?

Kräutler: Nein. Wo kirchliche (Basis-)Gemeinschaften existieren, da haben die Freikirchen keinen Zutritt. Die Freikirchen nutzen weidlich aus, dass Brasilien ein Land von Migranten ist. Die Leute, die neu ankommen, sind entwurzelt. Das nützen diese Kirchen aus.

Die Furche: Und die katholische Kirche überlässt ihnen die Migranten?

Kräutler: Unsere ganze Landpastoral nimmt sich dieses Problems an! Es gibt die Landflucht, eine Völkerwanderung; aber wir fragen auch nach den Ursachen: Warum gehen so viele aus dem Nordosten nach Sao Paulo und führen dort ein Leben in Favelas? Weil es im Nordosten eben nicht die Infrastruktur gibt, die sie bindet. Natürlich spielt auch die Sehnsucht nach der Stadt eine Rolle; aber die Menschen würden von ihren ursprünglichen Orten nicht weggehen, wenn sie die Möglichkeit hätten, dort anständig zu leben. Der Wahnsinn ist, dass diese Menschen in Sao Paulo dann noch weniger menschenwürdig leben als zuvor.

Die Furche: Sie sprechen auch von Inkulturation und davon, dass die Kirche etwa von den Indianern lernen muss.

Kräutler: Es geht da erstens um die Inkulturation der Botschaft und zweitens um die des Botschafters. Der erste Chronist, der in Brasilien ankam, hat schon nach wenigen Tagen geschrieben, dass die Indianer keine Religion hätten. Später hat man gesagt, sie haben eine Religion, aber die ist Aberglauben, Teufelskult. Man hat sich nie die Mühe gemacht zu fragen: Wie schaut der liebe Gott aus, an den ihr glaubt? Heute haben wir einen ganz anderen Zugang: Wir wollen Gott in diesen Völkern entdecken. Vor einigen Jahren hat der Papst in Neu-Delhi gesagt: Gott ist gegenwärtig in den Kulturen Indiens. Wenn Gott in den Kulturen Indiens gegenwärtig ist, dann ist er ganz sicher auch in den Kulturen der Indianer gegenwärtig! Keine Religion ist ein fest verschnürtes Glaubenspaket. Und derjenige, der die Botschaft überbringt, darf nicht von oben herab kommen. Er muss sich zunächst seines abendländischen Gewandes entblößen und in diese Kultur hineinwachsen.

Die Furche: Gibt man nichts Wesentliches vom Christentum auf, wenn man sich der indianischen Kultur annähert?

Kräutler: Ich muss meinen Glauben nie aufgeben. Aber es ist schön, wenn mir ein Indianer sagt: Du bist für mich kein Weißer, sondern du bist mein Bruder. Das ist wichtig, die Weißen kommen sonst immer, um etwas zu holen.

Die Furche: Was können die Indianer Brasiliens den Europäern weitergeben?

Kräutler: Einmal das Gemeinschaftsempfinden: Europäer sind mehr oder weniger zu Individualisten geworden. Ein zweites ist, wie ein Indianer das Land sieht. Er versteht nie, dass man Land (ver)kaufen kann: "Wie ist es möglich, dass jemand mit einem Blatt Papier herkommt, auf dem steht, Föderative Republik Brasilien - Grundbucheintragung des Gebiets von diesem bis zu jenem Fluss, und sagt: Dieses Land gehört mir? Er hat den Wald nicht gemacht und nicht die Tiere darin. Er hat die Flüsse nicht gemacht und die Fische im Fluss. Er lässt die Sonne nicht scheinen und den Regen nicht fallen."

Die Furche: Für Sie persönlich war Ihr Einsatz oft riskant, es gab Anschläge auf Sie: Leben Sie immer noch gefährlich?

Kräutler: Ich habe nicht Angst, dass hinter jedem Baum ein Heckenschütze steht. Aber wenn ich mich auf die Seite der Indianer, der Landlosen, der Frauen stelle, dann bin ich gegen die Interessen von vielen. Das Risiko hat wohl abgenommen, weil ich in Brasilien und international bekannt bin: Man wird sich zehnmal überlegen, ob man mir persönlich etwas antut. Ich möchte jedenfalls, solange mir der liebe Gott Kraft gibt, mich für die Menschen einsetzen.

Das Gespräch führte Otto Friedrich.

ZUR PERSON Vorarlberger in Amazonien 1939 wurde Erwin Kräutler im vorarlbergischen Koblach geboren. Nach dem Eintritt bei den Missionaren vom kostbaren Blut und Theologiestudien in Salzburg ging Kräutler 1965 nach Brasilien, wo er zunächst als "Wandermissionar" am unteren Xingu und Amazonas tätig war. 1981 wurde er Bischof der Prälatur Xingu und setzte sich für die Rechte der Indianer, der Landarbeiter sowie für die Rettung des Regenwaldes ein. 1981-93 war Kräutler Präsident des Indianer-Missionsrates der brasilianischen Bischofskonferenz. Sein Engagement brachte den Bischof immer wieder in Konflikt mit den Mächtigen: 1983 wurde er nach einer Solidaritätsaktion für Arbeiter von der 0Polizei zusammengeschlagen und verhaftet, 1987 überlebte er einen Mordanschlag schwer verletzt, sein Mitfahrer wurde bei dem inszenierten Autounfall getötet. 1995 wurde Kräutlers Ordensbruder und Mitarbeiter Hubert Mattle am Bischofssitz Altamira ermordet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung