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Der Leckerbisse

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Wörterbücher sind sich uneinig: das eine behauptet, Nachtisch sei der „letzte Gang des Essens“; das andere, er sei das, was erst dann auf den Tisch kommt, „wenn die letzten Speisen weggetragen wurden“.

Das erste Wörterbuch hat recht, indem es betont, daß Nachtisch zum Mahl gehört — wie das Amen zum Gottesdienst; das zweite, indem es das Dessert von den „Speisen“ trennt, also von dem, was wir unbedingt brauchen, um satt zu werden.

Ein Gang, den wir verspeisen, weil wir noch Hunger haben, ist kein wirklicher Nachtisch - mag es die prachtvollste Torte, der schönste Obstsalat, die raffinierteste Eisbombe sein.

„Der Hunger kennt kein Schwarzbrot“, sagt ein altes Sprichwort, und will damit sagen, daß einem hungrigen Menschen egal ist, was er ißt. Er kennt also auch keine Delikatessen.

Demnach ist der Nachtisch ein absolut überflüssiges Ding - um das Leben zu erhalten, braucht man ihn nicht. Darin liegt sein Wert. Er ist genauso überflüssig wie Schmuck.

Der Unterschied zwischen Nahrungsaufnahme und einem guten Essen ist wie der zwischen einem Wörterbuch und einem guten literarischen Werk: ersteres ist notwendig und nützlich, jedoch nicht dazu bestimmt, Genuß zu bringen.

Und ein guter Nachtisch ist bei einem guten Essen wie die Pointe beim Witz, wie die Zärtlichkeit zum Ausklang eines Liebesmahls — nichts für anspruchslos Gefräßige, sondern etwas für Genießer.

Die alte Weisheit, daß Liebe durch den Magen geht, meint ganz bestimmt nicht, daß man jemanden — ausgenommen in Hungerzeiten — mit einer Schüssel trok-kener Kartoffeln locken kann. Erst die einfallsreiche und liebevolle Wahl der Leckereien ist ein Zeichen der Zuneigung und kann Zuneigung gewinnen.

Daß Nahrungsaufnahme Notwendigkeit und Pflicht, Nachtisch dagegen Belohnung ist, weiß jedes Kind, dem seine Mutter einmal gedroht hat, daß es kein Eis oder keinen Pudding bekommt, wenn es das Süppchen oder den Spinat nicht ißt.

Wie man die Menschen kennt, und unsere Urahnen waren sicher nicht schlechter und nicht besser als wir, fing es mit der Selbstbelohnung an.

Als der Wohlstand der Urzeitj ä-ger so weit gediehen war, daß sie genug Beute hatten und sie nicht sofort an Ort und Stelle verschlingen mußten, aus Angst, daß sie ihnen weggenommen wird, ist wohl einer auf die Idee gekommen, sich das beste Stückchen - das Auge, die Zunge oder was immer damals als Leckerbissen galt — für das Ende der Mahlzeit aufzuheben. Quasi als Belohnung dafür, daß er so geschickt war und das Tier erlegte.

So wurde die Eßkultur geboren.

Es dauerte wahrscheinlich einige Jahrtausende, bis einem anderen Jäger einfiel, das beste Stück einer Frau zu bringen, die er begehrte, um so ihre Gunst zu gewinnen. Vielleicht war es auch umgekehrt: Eine Frau fand einige besonders schmackhafte Beeren und bewahrte sie für den Mann ihrer Wahl auf, als Krönung der Mahlzeit.

Ob so oder so - diese Verwöhnung war die Geburt der modernen Liebe.

Es brauchte noch viel Zeit und viel mehr Wohlstand, bis der Nachtisch zum regelmäßigen Teil der Mahlzeiten wurde. Denn er ist reiner Luxus, ein nichtsnutziges süßes Zeichen des Wohlstands. Desserts konnten sich meistens nur die Reichen leisten - die übertrafen sich aber darin, immer raffiniertere zu erfinden.

Der altgriechische Autor des „Frosch- und Mäusekrieges“ spricht etwa 500 vor Christus noch von „Honigkuchen, nach denen die Götter sich sehnen“. Ein halbes Jahrtausend später delektiert sich der Römer Petronius bei dem märchenhaften „Gastmahl des Trimalchio“ an „kalten Torten, welche mit warmen vortrefflichen spanischen Honigen übergössen waren“.

Bei dem „Fastenessen“, das der Kardinal von Bologna dem Kaiser Karl V. in Rom im April 1536 gab, wurden 56 Arten von Süßigkeiten serviert, von „Pisaner Biskuits mit Malvasier, in goldenen Tassen“ bis „Verschiedene Marzipanstatuen“.

Die Menschen beten noch heute um ihr tägliches Brot. Und wenn sie satt sind, wollen sie noch immer ihren Nachtisch.

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