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Vor vierzig Jahren

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Zum erstenmal sah ich einer Hungersnot in diesem November 1918 in die gelben und gefährlichen Augen. Das Brot krümelte sich schwarz und schmeckte nach Pech und Leim, Kaffee .war ein Absud von gebrannter Gerste, Bier ein gelbes Wasser, Schokolade gefärbter Sand, die Kartoffeln erfroren; die meisten zogen sich, um den Geschmack von Fleisch nicht ganz zu vergessen, Kaninchen auf, in unserem Garten schoß ein junger Bursche Eichhörnchen als Sonntagsspeise ab, und wohlgenährte Hunde oder Katzen kamen nur selten von längeren Spaziergängen zurück: Was an Stoffen angeboten wurde, war in Wahrheit präpariertes Papier, Ersatz eines Ersatzes; die Männer schlichen fast ausschließlich in alten, sogar russischen Uniformen herum, die sie aus einem Depot oder einem Krankenhaus geholt hatten, und in denen schon mehrere Menschen gestorben waren; Hosen, aus alten Säcken gefertigt, waren nicht selten. Jeder Schritt durch die Straßen, wo die Auslagen wie ausgeraubt standen, der Mörtel wie Grind von den verfallenden Häusern herabkrümelte und die Menschen, sichtlich unterernährt, sich nur mühsam zur Arbeit, schleppten, maoj?ienejrierndiJe .- Ss.e-lr3?eislött.fcB5weßTs!tfetif! es auf dem flachen Lande mit der Ernährung; bei dem allgemeinen Niederbruch der Moral dachte kein Bauer daran, seine Butter, seine Eier, seine Milch zu den gesetzlich festgelegten

„Höchstpreisen“ abzugeben. Er hielt, was er konnte, in seinen Speichern versteckt und wartete, bis Käufer mit besserem Angebot zu ihm ins Haus kamen. Bald entstand ein neuer Beruf, das sogenannte „Hamstern“. Beschäftigungslose Männer nahmen ein oder zwei Rucksäcke und wanderten von Bauer zu Bauer, fuhren sogar mit der Bahn an besonders ergiebige Plätze, um illegal Lebensmittel aufzutreiben, die sie dann in der Stadt zum vierfachen und fünffachen Preis verhökerten. Erst waren die Bauern glücklich über das viele Papiergeld, das ihnen für ihre Eier und ihre Butter ins Haus regnete und das sie ihrerseits „hamsterten“. Sobald sie aber mit ihren vollgestopften Brieftaschen in die Stadt kamen, um dort Waren einzukaufen, entdeckten sie zu ihrer Erbitterung, daß, während sie für ihre Lebensmittel nur das Fünffache verlangt hatten, die Sense, der Hammer, der Kessel, den sie kaufen wollten, unterdes um das Zwanzigfache oder Fünfzigfache im Preise gestiegen war. Von nun ab suchten sie nur industrielle Objekte sich beizulegen und forderten Sachwert für Sachwert. Waren für zurückgeschrittenwar,., löste sie. auch die tausendjährige Konvention des Geldes und kehrte zum primitiven Tauschwesen zurück. Durch das ganze Land begann ein grotesker Handel. Die Städter schleppten zu den Bauern hinaus, was sie entbehren konnten, chinesische Porzellanvasen und Teppiche, Säbel und Flinten, photographische Apparate und Bücher, Lampen und Zierat; so konnte man, wenn“ man in einen Salzburger Bauernhof trat, zu seiner Ueber-raschung einen indischen Buddha einen anstarren sehen oder einen Rokokobücherschrank mit französischen Lederbänden aufgestellt finden, auf den die neuen Eigner mit besonderem Stolz sich viel zugute taten. Substanz, nur kein Geld, das wurde die Parole. Manche mußten sich den Ehering vom Finger ziehen, nur um den Leib zu nähren.

Schließlich mengten sich die Behörden ein, um diesen Schleichhandel zu. stoppen, der in seiner Praxis ausschließlich den Begüterten zugute kam; von Provinz zu Provinz wurden ganze Kordons aufgestellt, um auf Fahrrädern und Bahnen den „Hamsterern“ die Ware abzunehmen und den städtischen Ernährungsämtern zuzuteilen. Die Hamsterer antworteten, indem sie nach Wildwestart nächtliche Transporte organisierten oder die Aufsichtsbeamten, die selbst hungrige Kinder zu Hause hatten, bestachen; manchmal kam es zu wirklichen Schlachten mit Revolver und Messer, die diese Burschen nach vierjähriger Frontübung ebenso gut zu handhaben verstanden, wie sich auf der Hucht im Gelände kunstgerecht zu verbergen. Von Woche zu Woche wurde das Chaos größer, die Bevölkerung aufgeregter. Denn von Tag zu Tag machte sich die Entwertung des Geldes fühlbarer. Durch dieses tolle Chaos wurde von Woche zu Woche die Situation widersinniger und unmoralischer. Wer 40 Jahre gespart und überdies sein Geld patriotisch in Kriegsanleihe angelegt hatte, wurde zum Bettler. Wer Schulden besaß, war ihrer ledig. Wer korrekt sich an die Lebensmittelverteilung hielt, verhungerte; nur wer sie frech überschritt, aß sich satt. Wer zu bestechen wußte, kam vorwärts; wer spekulierte, profitierte. Wer gemäß dem Einkaufspreis verkaufte, war bestohlen; wer sorgfältig kalkulierte, blieb geprellt. Es gab kein Maß, keinen Wert innerhalb dieses Zerfließens und Verdampfens des Geldes; es gab keine Tugend als die einzige: geschickt, bedenkenlos zu sein und dem iagenden Roß auf den Rücken zu springen, statt sich von ihm zertrampeln zu lassen.

Aus ..Die Welt von gestern“,. S.-Tischer-Verlag.

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